Was für ein Lied wohl gerade in ihm singen mag? In jenem Augenblick, in dem er– mit wie fast vor Schmerzen zugekniffenen Augen und Mund – um jede Note ringt und sich dafür über die Tastatur krümmt. Plötzlich hält es Keith Jarrett nicht mehr auf dem Klavierstuhl. Als ob gerade mal wieder ein Geistesblitz eingeschlagen wäre, eine seligmachende, ihn hochschleudernde Melodie. Keith Jarrett bewegt sich ständig zwischen Erde und Himmel. Musikalisch, aber auch körperlich. Wenn er in einem seiner Improvisationsmantras lebt und leidet, ächzt und stöhnt, grunzt und jauchzt, wimmert und stampft. Es ging auf Mitternacht zu, als sich Jarrett am 24. Januar 1975 trotz widriger Umstände ans Klavier setzte, um als ekstatischer Tastenturner dem Jazz romantische Flügel zu verleihen und sich selbst unsterblich zu machen. Zum Nationalfeiertag ist dieser Tag immer noch nicht ausgerufen worden. Dabei hätte er es durchaus verdient – auch wenn Wiglaf Droste anderer Meinung ist. Der von Droste als »Pickel in Noten« titulierte Live-Mitschnitt des »Köln Concert« aus dem Opernhaus ist zum Heiligen Gral geworden, in seiner kultischen Verehrung allein vergleichbar mit Alben wie »Kind of Blue« von Miles Davis und John Coltranes »A Love Supreme«. Über vier Millionen Mal hat sich das erfolgreichste Klavieralbum aller Zeiten verkauft. In solche Dimensionen sind die nachfolgenden Studio-Einspielungen und Konzertaufzeichnungen nie mehr auch nur annähernd vorgestoßen.
Wo auch immer der wahlweise zum Jazz-Guru oder -Halbgott ausgerufene Jarrett seitdem verschwenderisch mit Phantasie und Pianistik umgegangen ist – seine Jünger drängeln sich in Scharen um die Plätze in seinen Klavierprozessionen. In Deutschland sind Jarrett-Auftritte seltener als Papst-Besuche, so dass die beiden Deutschland-Termine 2007 rasch und zum Segen der Internetauktionshäuser ausverkauft waren. Nach 21 Jahren kehrt Jarrett nun auch wieder mit seinem Trio nach NRW zurück. Als es damals die Kölner Philharmonie beehrte, waren Jarrett, Bassist Gary Peacock und Schlagzeuger Jack DeJohnette gerade mal drei Jahre offiziell zusammen. Nachdem Jarrett 1983 mit der kühnen Idee in ein gemeinsames Abendessen geplatzt war, mit dem Klaviertrio als klassischster aller Jazz-Formationen ausschließlich Standards zu spielen. »Das ist doch Wahnsinn«, soll Peacock geantwortet haben. »Die haben wir alle schon totgespielt.« Nur noch Evergreens also? Von »Autumn Leaves« über »Someday My Prince Will Come« bis »My Funny Valentine«, unendlich oft arrangiert und durch unzählige Barpianisten-Hände gegangen. Für Keith Jarrett waren diese Ohrwürmer aus dem American Songbook eben nicht einfach nur das ABC des Jazz und die überhaupt beste Musik. Sie lösen in ihm bis heute ein Höchstmaß an Gedankenfreiheit aus. »Mit dem Standards-Trio gestaltet er eine Welt, die manchen vielleicht etwas retardiert erscheint, obwohl es natürlich einer großen Wachheit und Kunst bedarf, selbst innerhalb dieses Radius immer wieder neue Dinge zu erfinden.« So hat einmal Manfred Eicher, der seit Beginn der 1970er Jahre mit seinem Label ECM zum künstlerischen Begleiter Jarretts geworden ist, das Trio-Konzept beschrieben.
Was damals von der Jazz-Polizei zunächst noch als Rolle rückwärts abgetan wurde, hat inzwischen längst Schule gemacht und Nachahmer gefunden. Selbst bei dem amerikanischen Wunderknaben Brad Mehldau, der sich mehr der jüngeren Pop-Geschichte widmet, ist die Patenschaft Jarretts unüberhörbar. Bei Jarrett selbst hingegen scheitert jeder Versuch, eindeutige Ähnlichkeiten in der großen Ahnengalerie des Jazz erkennen zu wollen. Die Art, wie er Melodik, Harmonik und Rhythmik als einen großen Schöpfungsakt versteht, ist genauso singulär wie das Können, nur einzelne Motiv-Floskeln motorisch aufzustellen, abzuwägen und durchzukneten, um sich von der Essenz treiben zu lassen. Wobei ihm die Erfahrungen und Erinnerungen, die sich im Laufe eines reichen Musikerlebens angesammelt haben, zu Hilfe kommen. Dazu gehört bei Jarrett die klassische Musik, seine intensive Auseinandersetzung mit Bach, Mozart und Schostakowitsch. Dazu zählen aber gleichermaßen die zahllosen Jazz-Expeditionen, die der 1945 in Allentown/Pennsylvania geborene Jarrett ab Mitte der 1960er Jahre mitbestimmte. Bei Miles Davis, im ersten eigenen Trio mit Charlie Haden und Paul Motian bis hin zu den beiden Quartetten mit Dewey Redman bzw. Jan Garbarek am Saxofon. Blues und Bebop, eine barocke Aria und bebender Swing – das alles verbindet sich in den Improvisationen dann zu einem Organismus, dessen Existenz sich dem feinen Gespür Jarretts verdankt. »In der Musik stützt man sich auf Instinkte, die man sich nicht ansatzweise bewusst machen kann«, so Jarrett jüngst in einem Interview. »Irgendwie weiß man, dass zum Beispiel das Gefühl für den Rhythmus, in dem man gerade spielt, nicht nach A, B, C, D oder F führt, dafür aber vielleicht nach G. Und plötzlich schießt einem aus dem unglaublich großen Repertoire etwas in den Kopf und sagt einem, welches Stück man als nächstes spielt.« Für solche Sekundenentscheidungen benötigt man dementsprechend nicht nur reaktionsschnelle Kombattanten. Das Gefüge kann nur funktionieren, wenn es aus einem Guss ist und selbst Hochkaräter wie Gary Peacock und Jack DeJohnette den dauernden Dialog suchen, sie die Gelüste nach eitlen Monologen hintan stellen. Auch deshalb sind die drei zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammengewachsen, in der DeJohnette wie in luxuriös gefederten Turnschuhen kunstvoll über alle erdenklichen Klippen sprintet, die das Schlagzeugspiel zu bieten hat. Während Peacock dazu seinen Bass aufgeregt pumpen oder herzerwärmend singen lässt. Schließlich geht es diesem Trio um nichts Geringeres, als den Jazz-Liedern ohne Worte ihr eigenstes Geheimnis zu entlocken. Dafür finden sie verschiedenste Wege, von denen jeder einzelne der einzig richtige zu sein scheint. //
Am 16. Juli 2007 in der Philharmonie Essen; www.klavierfestival.de