Ruhrgebiet, später: Auf und aus dem Gasometer wachsen Bäume. Supermärkte und Trinkhallen sind verrammelt und zugewachsen. Die A 40 ist überwuchert von Büschen und nahezu unbefahrbar. Das macht aber nichts, denn es gibt niemanden mehr, der hier Auto fährt. Drei Forscher streifen durch die verlassene Gegend, auf der Suche nach Menschen und Antworten auf ihre Fragen. »Ruhrgebiet, später« heißt der Comic von Christian Schellewald. Das Revier in seinem Strip ist ein sich selbst überlassener Dschungel, in dem man die einstigen Wahrzeichen aus der Vogelperspektive gerade noch erkennt. Wie Tempel einer vergessenen Hochkultur ragen sie zwischen exotischen Pflanzen hervor. Vor einem Eck-Café trifft die Expedition schließlich auf die drei offensichtlich letzten Bewohner. Sie sitzen draußen am Tisch, rauchen und trinken Bier. Statt Antworten zu geben, stellen diese drei allerdings nur erstaunte Rückfragen: »Wie? Wer? Seit wann?« Erst als die Forscher wieder weg sind, werden sie nachdenklich. »Jetzt wo er’s sagt. Wo sind überhaupt alle?« »Noch’n Bier?«, resümiert der dritte.
Das Ruhrgebiet verändert sich dramatisch – und die Bewohner kriegen es gar nicht mit. Diese Sicht der Dinge ist umso bemerkenswerter, als der Zeichner das Ruhrgebiet längst verlassen hat. Christian Schellewald, Jahrgang 1962, gebürtiger Essener und studierter Kommunikationsdesigner, lebt seit Jahren in Los Angeles und arbeitet für die US-Filmproduktionsfirma Dreamworks, die Animationsfilme wie »Shrek« produziert und vertreibt. Noch bemerkenswerter ist, dass die drei Ureinwohner in Schellewalds Comic drei seiner Bekannten und Künstlerkollegen sind: Die Männer, die sich hier Jan, Helge und Rainer nennen, sind unschwer als Jan-Michael Richter, Helge Jepsen und Rainer Stock zu identifizieren. Verpennen die hier lebenden Künstler etwas? Muss man von außen aufs Ruhrgebiet blicken, um zu sehen, was sich entwickelt hat? Vielleicht ist das so, und vielleicht hat Jan-Michael Richter – besser bekannt als Jamiri – deshalb Freunde und Kollegen in einem heißt die Sammlung sequenzieller Kunst, Untertitel »Comics aus dem Ruhrgebiet« – der erste Versuch überhaupt, so etwas wie die Ruhrgebiets-Comicszene abzubilden.
Was kommt heraus, wenn 16 Comic-Zeichner und Illustratoren den Auftrag bekommen, einen Ruhrgebiets-Comic zu zeichnen? Auf jeden Fall ein Band, der sich für sein Genre recht gut verkauft – 4000 Exemplare gingen über die Ladentheken. Das mag an der Kooperation mit einer großen Buchhandlung aus NRW zu liegen, oder auch am Herausgeber Jamiri, der als Hauszeichner von »spiegel online« und (der bundesweiten Studentenzeitschrift) »Unicum« eine bundesweite Fangemeinde hat. Nicht alle der versammelten Künstler leben wie Jamiri im Ruhrgebiet – aber entweder sind sie dort geboren, oder haben in Essen das Fach Kommunikationsdesign studiert.
»Hier waren echte Insassen am Kunstwerk«, behauptet der Dortmunder Autor und Komödiant Fritz Eckenga im Vorwort, »die Schauplätze ihrer Geschichten sind nicht die zu Klischees degenerierten Trinkhallen, Pommesbuden, Kneipen, Fußballplätze, Zechen, Stahlwerke und Autobahnwüsten heimattümelnder Auftragslangweiler.« Wenn man dann losblättert, findet sich allerdings genau das: Trinkhallen (drei Mal), Pommesbuden (zwei Mal), Kneipen (zwei Mal), Fußball (ein Mal), Zechen bzw. Bergbau (acht Mal), Stahlwerke (drei Mai) und Autobahnen (drei Mal). Für Herausgeber Jamiri ist das kein echter Widerspruch. »Zum Klischee degeneriert wären die Schauplätze, wenn die Zeche wie auf einer Postkarte abgefeiert würde. Stattdessen schauen wir von innen darauf.« Einen Bergmann bei der Maloche zu zeigen, das wäre nicht gut gegangen, bekennt er der Reporteri. Denn: »Die meisten von uns sind mit der Zeche Zollverein schon als Designzentrum aufgewachsen, nicht als Industriestandort. Und das findet sich im Buch wieder.«
Eine Ausnahme macht einer der älteren Zeichner: Hendrik Dorgathen, Jahrgang 1957, der an der Kunsthochschule Kassel das Fach Illustration und Comics unterrichtet. In »Der Stahlgolem« zeigt er, wie ein ehemaliger Malocher in einer geheimen Werkshalle unter dem CentrO Oberhausen auf Schicht geht. Der Archetyp eines Ruhrpottmalochers, den Dorgathen mit mürrisch-zerfurchtem Gesicht, Zigarettenkippe und Kunstledertasche zeichnet, baut mit Kollegen an einem stählernen Godzilla, der eines Tages das Einkaufszentrum wieder einreißen wird.
Sein zwölf Jahre jüngerer Kollege Ulf Keyenburg geht ganz anders ans selbe Thema. Der gebürtige Oberhausener, der 2004 auf dem internationalen Comicsalon Erlangen, dem bedeutendsten deutschen Comic-Festival, als bester deutschsprachiger Comiczeichner geehrt wurde, erzählt den Strukturwandel wie ein Märchen. In »Erzgang«, einer reinen Bildergeschichte, machen sich die Hochöfen und Industrieanlagen eines Tages aus dem Staub. Ein Koffer links und einer rechts, marschieren die Landmarken einfach davon. Das Leben geht trotzdem weiter, vielleicht sogar ein wenig schöner als zuvor. »Ich habe die Jungs ganz bewusst einfach machen lassen. Ich dachte, so wird es am lebendigsten und zwangsläufig authentisch«, sagt Jamiri. Und so findet sich die Abrechnung mit dem Ruhrgebiet ebenso wie kleine Liebeserklärungen, gibt es den ironischen Blick und den phantastischen.
Für die Abrechnung sorgt Jamiri in seiner Titelgeschichte »Auf Ruhr« selbst. Vier Bilder reichen, um seine Sicht auf seine Heimat zu illustrieren. Im Comic steht Jamiri, dessen strubbeliges Alter Ego stets die Hauptperson in seinen Bildern ist, auf einer Fußgängerbrücke über der A 40 und lässt sich zum Thema »Kulturhauptstadt« interviewen. Sein Kommentar dazu ist »pflopp« – das Geräusch einer sich öffnenden Bierflasche. Die Kulturhauptstadt, schon jetzt ein Pflopp? »Ach«, sagt der gezeichnete Jamiri im Interview ein wenig gelangweilt, ein Auge halb zugekniffen und den Mundwinkel verächtlich hochgezogen, »dieser Ort allein ist weder faszinierend, schön oder angenehm. Deshalb müssen die, die hier leben, das Faszinierende, Schöne und Angenehme immer wieder selbst dem Ort hinzufügen.« Für einen Zeichner sei das Ruhrgebiet ziemlich uninteressant, fügt Jamiri, diesmal im realen Interview, hinzu. »Nach meinem Erleben gibt einem das Ruhrgebiet wenig bis nichts zurück. Hier werden meine Akkus nicht aufgeladen, sondern ich werde leergesaugt. Es inspiriert nicht, da flirrt nichts.« Und wer sich auf die Suche nach interessanten Kulissen mache, der lande eben – bei Zechen, Stahlwerken, Trinkhallen.
Trotz Revier-Depression ist Jamiri der bekannteste Ruhrgebiets-Comiczeichner – ein Titel, den er seiner Ansicht nach gar nicht verdient. Dass das Ruhrgebiet so oft Schauplatz seiner Geschichten ist, liege einfach an seiner Technik: Jamiri bearbeitet, illustriert und verfremdet digitalisierte Fotos, so dass seine Comics extrem naturalistisch, oft sogar fotorealistisch wirken. Und da er meist seine eigenen Geschichten erzählt und nun einmal in Essen lebt, ist dieser Ort automatisch Schauplatz. »Ich habe keinen künstlerischen Zugriff aufs Ruhrgebiet, zumindest keinen bewussten. Meine Comics könnten ebenso gut in Berlin spielen.«
Eine subtile Liebeserklärung kommt dagegen von Illustratorin Katrin Assmann. Die gebürtige Essenerin lebt mit ihrem Mann Christian Schellewald in Los Angeles und damit anscheinend weit genug weg, um die ehemalige Heimat liebevoll betrachten zu können. In ihrem Cartoon »Zugvögel im Ruhrgebiet« sitzen neun Vögel in einer Kneipe, ein Pils-Glas vor sich. Die Zugvögel sind gezeichnet, das Bild der Kneipe beruht auf einer Fotografie: Resopal-Boden, eine vertäfelte Eckbank; schlichte Holzstühle und -tische, auf denen farblos-schmutzige Deckchen und schwere Aschenbecher liegen. »Müssen wir nicht mal los?«, fragt ein zehnter Vogel. Die Zugvögel schweigen, doch die Antwort liest der Betrachter in ihren Gesichtern: »Ach nö«. Auch wenn es im Ruhrgebiet nicht richtig schön ist, auch wenn attraktivere Ziele locken – hier kann man gut hängen bleiben. Davon erzählt auch Helge Jepsen, gebürtiger Flensburger, der heute als Illustrator für Magazine und Werbung in Essen lebt. Auf vier seitenfüllenden Bildern zeigt Jepsen eine typische Ruhr-gebiets-Szene: graues Eck-Haus mit Trinkhalle, ein dicker Glatzkopf in Unterhemd, der sich aus dem Fenster lehnt; die Zeit versickert – »Nee, war datt’n Tach«, ist der abschließende Kommentar.
»Ich habe festgestellt, dass die Leute, die nicht aus dem Ruhrgebiet sind und nicht mehr hier leben, wesentlich liebevoller mit ihm umgehen«, stellt auch Jamiri fest. »Wer hier geblieben ist, drischt für gewöhnlich drauf.« Das tut zum Beispiel der gebürtige Gladbecker Frank Georg Lucas – nicht vernichtend, nur sehr ironisch. In »Liebe in Zeiten der Ruhr« lässt der Kommunikationsdesigner eine seiner grob gezeichneten Figuren mit Kasten-Körper, Klotz-Füßen und drei Fingern an jeder Hand das Lied der Superlative singen, das im Ruhrgebiet so beliebt ist. »Das Ruhrgebiet hat mehr Parks als New York«, beginnt es noch recht harmlos, um sich am Ende ins Absurde zu steigern: »Die Bibel erwähnt das Ruhrgebiet 157 Mal«, oder: »Hinweise in den Seekarten des Piri Reis zeigen, dass die Ruhr genau dem schlammigen Gewässer entspricht, das Platon beschreibt.« Leider, so schließt Lucas’ Comic, seien die grandiosen Pyramiden von Dortmund-Sölde nicht erhalten geblieben.
Seinen Geburtsort Hattingen lange verlassen hat Harald Siepermann, der Zeichner der von Hermann van Veen erdachten Ente Alfred Jodocus Kwak und Erfinder diverser Figuren für Walt-Disney-Animationsfilme. Mit dem Auftrag, einen Comic übers Ruhrgebiet zu zeichnen, konnte Siepermann erkennbar nichts anfangen – und schuf eine anspielungsreiche Geschichte zum Thema »Mir fällt nichts ein«. Sie beginnt phantastisch im Palast des Maharadschas von Eschnapur auf der Suche nach einem geheimen Tempel, bis einer der Tier-Protagonisten zum Thema kommt: »Sollten wir nicht eigentlich was übers Ruhrgebiet machen?« Fortan geht es auf einer Meta-Ebene ums Comiczeichnen (»Wir sind schon wieder viel zu textlastig«), um verpasste Deadlines, um das Aufwärmen alter Ideen und um die schiere Unmöglichkeit, als Nichtmehr-Ruhri etwas zum Thema zu zeichnen, das kein Klischee ist.
Alles in allem ist »AufRuhr« weniger eine Leistungsschau der Ruhrgebiets-Comicszene – dafür sind zu wenig echte Comiczeichner und zu viele Illustratoren dabei, die zudem häufig nicht mehr im Ruhrgebiet leben. Eine echte Comicszene, sagt Jamiri, gebe es im Ruhrgebiet tatsächlich nicht. Das Verdienst des Buches ist ein anderes: Es stellt die spannende Frage, wie sich das Ruhrgebiet visuell definieren kann, wie man zeichnerisch mit den offensichtlichen Relikten der Industriekultur umgeht, die für viele per se unter Klischee-Verdacht stehen. Zum anderen zeigt der Band eine erfreuliche formale Bandbreite. Am ehesten in der Tradition klassischer Comicstrips, die aus wenigen Bildern bestehen und ursprünglich zum Abdruck in Tageszeichnungen entstanden, steht Hansi Kiefersauers Arbeit. Der Erfinder des WAZ-Comics »Dr. Bubi Livingston« versammelt in seinem namenlosen Beitrag bewusst Klischees, indem er den Hintergrund für die Pommesbude in seinem Strip fünf Mal wechselt: Drei verschiedene Zechen sind zu sehen, ein Gasometer und ein Wasserturm. An ein Film-Storyboard erinnert Klaus Trommers »Superstar«. Der Designer aus Wanne-Eickel, der in Essen eine Design-Agentur betreibt, hat sich von Dan Browns Roman »Sakrileg« inspirieren lassen und zeigt aufwändig illustriert im Breitband-Format, welches Geheimnis tief unter der Villa Hügel lauert: ein kathedralenähnlicher Raum aus stählernen Maschinen, dominiert von einer gewaltigen Orgel, auf der der alte Krupp, so die Suggestion, den Takt der Industrialisierung, ja des gesamten Ruhrgebietslebens angab. Der Dortmunder Ari Plikat steuerte einen Cartoon bei, Jamiri überzeugt mit seinen naturalistischen Bildern, es gibt Tier- bzw. Phantasiewesencomics, und mit »Heimspiel« des Berliners Michael Vogt (dessen Schwiegeroma aus dem Ruhrgebiet kommt), erscheint sogar eine Geschichte in typischer Comicsprache: Tschonk-Woomb-Pok. Nur Mangas sucht man vergeblich.
Jamiri (Hg.): AufRuhr. 16 Comics aus dem Ruhrgebiet, Verlag KonturBlau, Dorsten 2006, 56 Seiten. Im Sommer erscheint Jamiris neues Werk »Autodox« mit Arbeiten u.a. aus »Spiegel online« und »Unicum«.