INTERVIEW: CHRISTOPH VRATZ
Die Neue Musik hat sie zusammengeführt. Zunächst Lehrer und Schülerin, treten sie inzwischen, oft in gemeinsamen Konzerten, als gleichberechtigte Partner auf: die Pianisten Pierre-Laurent Aimard und Tamara Stefanovich. Beim Klavier-Festival Ruhr werden die beiden Musiker in diesem Monat jeweils einen Soloabend geben.
Partituren Neuer Musik sind oft labyrinthisch: Klumpenbildung in Form von Noten oder aber große Freiflächen mit nur einzelnen Pünktchen. Nichts für prima-vista-Spieler. In solchen Fällen erschallt gern der Ruf nach Spezialisten. Als solche gelten der Franzose Aimard und seine vielleicht prominenteste Schülerin, die in Belgrad geborene Tamara Stefanovich. Doch was heißt schon »Spezialist für Neue Musik«? Ein Etikett, das beide beim Treffen mit K.WEST in der Kölner Musikhochschule skeptisch dreinschauen lässt.
AIMARD: Musiker sollten Grenzen überwinden und überwinden wollen – dazu zählt eben auch die Neue Musik, die eine große Herausforderung darstellt und zugleich Brücken schlägt zurück zu den Alten, zu den Wurzeln.
STEFANOVICH: Unser Glück als Musiker ist es doch, sich nicht für die eine und gegen eine andere Richtung entscheiden zu müssen. Ich finde es oft erschreckend, wenn ich – teilweise von rundum gebildeten Leuten – gefragt werde: »Aber Tamara, du wirst doch nicht nur Neue Musik machen, sondern auch weiter Schumann spielen?« Als Interpret möchte man sich so viele Richtungen wie möglich erschließen, so wie ein Linguist oder ein Übersetzer niemals nur eine Sprache spricht, sondern sich allgemein für das Phänomen Sprache interessiert. Wer nur Romantik oder nur Klassik spielt, hat seinen Beruf irgendwie verfehlt. Allerdings weiß ich, dass das oft anders gesehen wird.
AIMARD: Dahinter steckt die allgemeine und komplexe Frage, warum denn neu komponierte Musik von einer Gesellschaft immer erst mit großer Verspätung akzeptiert wird, ob bei Beethoven oder bei Alban Berg.
K.WEST: Zugleich sind Berührungsängste mit Schönberg oder Ligeti immer noch größer als bei Bildern eines Picasso oder Kandinsky…
AIMARD: Weil pädagogische Arbeit für diese Malerei intensiver betrieben wurde als für die Musik. Ähnlich im Bereich der Technik. Viele Menschen mit ganz konservativem Musikgeschmack sind im Umgang mit Computern äußerst kreativ, nicht aber in der Musik. Insgesamt ist ernsthaft zu beklagen, dass unsere Gesellschaft derzeit zu wenig künstlerisch ist.
K.WEST: Tragen die oft steifen Konzertformen daran Mitschuld?
AIMARD: Es gibt viele Musiker, die sich an neuen Ideen heranwagen. Doch finden diese Bemühungen meist im Verborgenen statt, nicht in der hell beschienenen Vitrine des Starbetriebs, in der ohnehin nur selten die besten Künstler ausgestellt werden.
Seit längerem bastelt Aimard an eher untypischen Präsentationen, sei es, dass er ungewöhnliche Gegenüberstellungen wagt wie die Etüden Ligetis an der Seite von Schumanns »Symphonischen Etüden«; sei es, dass er – wie in diesem Jahr beim Klavier-Festival Ruhr – die Werke moderiert. Aimard ist halt ein Tüftler. In dem von Pierre Boulez gegründeten »Ensemble Intercontemporain« hat er jahrelang das weite Feld der zeitgenössischen Musik beackert, mit fast allen kompositorischen Größen des 20. Jahrhunderts hat er zusammengearbeitet, ob Messiaen, Boulez oder Ligeti. Von letzterem übernahm er drei Ideale: »Freiheit, Unabhängigkeit und Originalität«.
K.WEST: Lassen sich Erfahrung und Wissen leicht an Studenten weitergeben?
AIMARD: Das ist natürlich personenabhängig. Wenn jemand keinen Sinn dafür hat, kann man als Lehrer nicht viel erreichen. Besitzt jemand ein ausgeprägtes Faible für Ordnung und Disziplin, lässt sich innerhalb dieser Grenzen sicher etwas erreichen, nicht aber darüber hinaus. Es gibt kein System, das eine allgemein erfolgreiche Pädagogik hervorbringen kann. In der Musik bleibt das eine Frage der Persönlichkeit.
K.WEST: Und wie wird man eine musikalische Persönlichkeit?
STEFANOVICH: Indem man sich bewusst ist, das man diesen Prozess als Weg beschreitet und nicht ein festes Ziel vor Augen hat. Sonst wird man ungeduldig und verliert den Blick für ein Lernen, das auch viel mit Erfahrung zu tun hat. Ich selbst sitze ein wenig zwischen den Stühlen, einerseits als noch junge Künstlerin, deren Weg noch weit ist, aber auch als Unterrichtende. Ich merke, wie schwer es mir fällt, Ungeduld zu unterdrücken und ständig neuen Appetit bei den Schülern zu wecken. Was zählt, ist eine gute Balance. Jeder muss sein Tempo selbst finden, mit dem er voranschreitet.
AIMARD: Das ist ein heikler Spagat zwischen einer seelischen Unruhe, die oft mit Neugierde gepaart ist, und Kontrollmechanismen, mit denen man diese Unruhe, zumindest äußerlich, im Griff hält. Wichtig ist, vertraut zu werden mit Urzuständen menschlichen Seins, manchmal wild und beherzt, manchmal kühl und rational. Disziplin wirkt dabei wie ein Filter, um gegebene Ordnungen und Regeln mit der Emotion in Einklang zu bringen. Ein permanentes Spiel zwischen Intuition und Methodik.
K.WEST: Fällt es Ihnen leichter, Neue Musik zu unterrichten, weil es auf Seiten der Studenten weniger vorgeprägte Denkmuster gibt?
STEFANOVICH: Das habe ich mich so nie gefragt. Wenn mir ein Schüler ein Werk vorspielt, überlege ich zunächst: Wie weit ist er schon, und wo braucht er meine Hilfe, um noch weiter zu kommen? Das ist von der Epoche eines Werkes unabhängig. Natürlich ist es schwierig, wenn mir jemand eine Chopin-Ballade schlecht vorspielt, weil er die Tradition eines berühmten Pianisten nachahmt. Versuchen Sie in so einem Fall, noch mal bei Null zu beginnen. Insofern hat es die Neue Musik etwas leichter, weil sie grundsätzlich mehr Geduld voraussetzt als eine Beethoven-Sonate, die man schon x-mal gehört hat.
Stefanovich ist das Gerede von einem oft negativ besetzten Intellektualismus, der Neuer Musik zum Vorwurf gemacht wird, nicht geheuer. Immerhin hätten weder Beethoven noch Boulez ihre Werke im Vollrausch geschrieben, sondern hochkonzentriert, am Schreibtisch sitzend oder am Klavier, mit viel Nachdenken über Struktur und Form. Aimard schweigt, doch seine Augen signalisieren Zustimmung. Ohnehin wirkt der Franzose sehr ruhig, fast unerschütterlich, dabei keinen Deut überheblich. Ob im Gespräch oder während eines Konzerts auf der Bühne: Präzise sucht er nach dem richtigen Ausdruck. Floskeln, Fünf-Mark-Sätze fürs Phrasenschwein, sucht man bei ihm vergebens. Dies versucht er auch seinen Studenten zu vermitteln. Stefanovich jedenfalls funkt mit ihm auf einer Gedankenwelle, nicht als Folge von Anbiederung an den Meister, sondern aus eigener Erkenntnis. Kennen gelernt haben sie sich in Köln. Stefanovich hatte drei Jahre USA hinter sich, u.a. bei Claude Frank am Curtis Institute of Music in Philadelphia, und suchte nun in Deutschland neue Herausforderung.
Aimard, Dozent an der Kölner Hochschule für Musik, bot zum damaligen Zeitpunkt einen Kurs über Boulez’ »Structures« an. Stefanovich, der das Boulez’sche Klavierwerk bis dahin unbekannt war, wollte teilnehmen.
STEFANOVICH: Wenn man schon den Titel nicht kennt, ist eine solche Veranstaltung Pflicht. Leider beobachte ich mehr und mehr, dass bei einem Workshop über Chopin-Etüden der Saal mit Studenten voll ist, nicht aber, wenn unbekannte Werke auf dem Programm stehen. Ich kam also in den Kurs, hörte diese Musik und wusste nicht, ob ich sie mochte. Damals habe ich gelernt, wie wichtig es sein kann, nicht immer gleich einen klaren Standpunkt zu vertreten, sondern abzuwarten, Offenheit zu bewahren. In der Pause kam Aimard zu mir und wollte wissen, wie es mir gefallen habe. Ich sagte: »Weiß nicht.« Er darauf: »Wunderbar. Bleiben Sie einfach neugierig.« Das war wie eine Initialzündung für mich: Auf zu neuen Ufern!
AIMARD: Wenn Talent und Neugierde zusammenkommen, ist das für jeden Lehrer ein Geschenk. Er muss dann erspüren, was zur Persönlichkeit dieses jungen Musikers passt, damit er sich behutsam entwickeln kann. Ihn bereichern, das ist unser primäres Ziel, nicht die Perfektion. Ich möchte schließlich jemandem helfen, damit er in dem Berufsfeld, für das er sich entschieden hat, seinen Platz finden kann. Als ich in Köln zu unterrichten begann, lautete die offizielle Vorgabe: Integration von Neuer Musik in den üblichen Ausbildungsprozess. Das scheint zunächst normal. Doch noch heute fragen wir uns, wie man 2007 Musik studieren kann, ohne zu wissen, was im 20. Jahrhundert eigentlich passiert ist. Es ist leider erschreckend zu sehen, wie viele Musiker heute mit einer Ignoranz gegenüber der Musik nach dem Ersten, spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg ausgebildet werden. Der Kampf gegen Mentalitäten und die Ränkespiele innerhalb einer Institution spielt dabei eine ebenfalls traurige Rolle.
K.WEST: Haben Sie den Eindruck, dass man jungen Musikern heute zu wenig Zeit gibt, sich zu entwickeln?
STEFANOVICH: Kommt darauf an, was damit gemeint ist: ob jemand darauf vorbereitet werden soll, mit Zwanzig in der Carnegie Hall zu debütieren, oder in Ruhe an seiner Laufbahn feilen kann, um über Jahrzehnte hinweg zu reifen. Ich beobachte oft, dass junge Leute zu einem Professor gehen, weil er berühmt ist – nach dem Motto: Der wird mir schon einen guten Agenten oder Konzertauftritte und Zugang zu großen Wettbewerben vermitteln. Völlig falsch, meines Erachtens. Wer sich kontinuierlich entwickeln möchte, hat heute genug Zeit zum Lernen. Wer jedoch andere nachahmen will, dem bleibt nur wenig Zeit.
AIMARD: Die äußeren Regeln für Erfolg – Anerkennung in der Gesellschaft, Arbeit mit den Medien – haben nichts mit künstlerischem Erfolg zu tun. Deswegen sieht man so viele uninteressante junge Musiker, die für ein paar Jahre attraktiv sein mögen, weil sich von ihnen gute Fotos machen lassen, die dann aber schnell wieder verschwinden, weil sie im Konzertsaal eine Katastrophe sind.
K.WEST: Was vielleicht auch daran liegt, dass zu wenige gute Pianisten Mut haben zu unterrichten.
AIMARD: Ja, denn im Fach Klavier besteht zwischen Hochschule und Beruf selten eine Brücke; bei Orchesterinstrumenten ist das anders. Einen solchen Übergang zu schaffen, ist gewiss nicht leicht; daher muss man individuell dagegen angehen. Das System ist in dieser Beziehung falsch.
K.WEST: In Frankreich hätten Sie bei der jüngsten Wahl gegen solches Denken Ihre Stimme erheben können …
AIMARD: Dort würde ich noch auf viel weniger Verständnis für mehr Flexibilität innerhalb der Institution stoßen als in Deutschland. Der Formalismus ist dort viel stärker, weil die Musik nicht im Zentrum der kulturellen Arbeit steht. Ich liebe zwar mein Land, aber mit geöffneten Augen.
Pierre-Laurent Aimard: Konzert am 18.6.2007. im Düsseldorfer Schumann-Saal (Werke von Scarlatti, Kurtág, Beethoven, Stockhausen, Schubert, Stroppa u.a.) Tamara Stefanovich: Konzert am 21.6.2007 in der Stadthalle Mülheim (Werke von Haydn, Müller-Wieland, Beethoven, Schumann, Szymanowski). www.klavierfestival.de