TEXT: GUIDO FISCHER
Natürlich gibt es diese großen Momente, in denen er das Gespräch mit seinem Konzertflügel einfach genießt. Wenn Jens Thomas sich tief über die Tasten beugt und ein elegisches Kernmotiv zunächst sanft umspielt – um mit ihm schließlich eine Lawine loszutreten. Dann phantasiert sich Thomas virtuos in einen Rausch hinein, bei dem sich Modulationsberge auftürmen und sonor grollende Bass-Figuren dazwischenwerfen. Und sobald Thomas in diesem rockinfizierten Jazz-Mantra einen neuen Geistesblitz hat, stöhnt er emphatisch auf, um sich mitsummend wieder in der Improvisation zu verlieren.
Bei solchen pianistischen Exkursionen ist eine verblüffende Nähe zwischen Jens Thomas und Keith Jarrett, dem Paten des modernen Jazz-Klaviers, nicht zu überhören. Das allein würde durchaus ausreichen, um sich im Jazz- Betrieb halbwegs zu etablieren. Doch sich nur ausschließlich an die Fersen der Jazzväter- Generation zu heften, kommt für Thomas nicht in Frage. Der deutsche Senkrechtstarter braucht die Bewegungsfreiheit, keinen Traditionsballast. Lieber sucht er risikofreudig die Konfrontation, statt es sich mit gerade mal 35 Jahren routiniert gemütlich zu machen. Auf welche unbekannten Kontaktstellen und Kontaktpersonen Thomas sich dabei einlässt, ist zurzeit in den Kammerspielen des Bochumer Schauspielhauses in aller musikalischen Breite zu erleben.
Eine ganze Spielzeit, in insgesamt sieben Konzerten, zeigt sich Thomas in der Reihe »Piano Voices« als Wanderer zwischen Pop und Improvisation, zwischen Jazz und Goethe- Rezitation. Zu einer erstmaligen Begegnung mit der Schlagzeug-Ikone Robyn Schul- kowsky kam es bereits, ein Wiedersehen mit einem langjährigen Freund, dem Saxophonisten Christof Lauer, steht noch aus. Wenngleich die Handschriften der von Thomas ausgewählten Duellanten unterschiedlicher nicht sein könnten, liegt für ihn gerade darin die Herausforderung: »Wenn es möglich ist, ganz geöffnet zu sein, auf dass die Musik einfach kommt, dann ist man Werkzeug für das Wunderbare. Es ist der Austausch ohne Worte, das Spiel mit der Energie. Und wenn es rockt, ist es total geil.«
Im Gespräch klingt Thomas’ musikalische Früherziehung an, die von AC/DC und BAP geprägt war, nicht von Gershwin & Co. In der von ihm als »Factory of Sounds« bezeichneten Konzertfolge in Bochum aber übersetzt er die Impulsivität des Rock in klangexperimentelle Versuchsreihen. Dann ist der blonde Schlacks nicht mehr zu halten. Mit dem in Istanbul geborenen und in Teheran aufgewachsenen Percussionisten und Elektro-Tüftler Saam Schlamminger (»Ein neu aufgetauchter Bruder im Geiste und der Musik«) wuchtete Thomas im Eröffnungskonzert heftige Industrial- Sounds heraus und brachte mit zerknitterter Sopran-Stimme verstörende Pop-Balladen zu Gehör. Und weil Thomas die Oktavenlaufbahn seines Flügels schon längst nicht mehr ausreicht, um Klangräume auszumessen, schlüpft er immer öfters in die Rolle des Performancekünstlers. Mal klopft er mit Robyn Schulkowsky die Bühnenwände ab. Mal funktioniert er die dekorativen Metallkappen der Klavier-Füße zu einem Minischlagzeug um, oder er deponiert im Resonanzkörper Plastikfolien, unter denen die Saiten gespenstisch zu schnarren beginnen. Es ist eine auch theatralische Enthemmtheit, mit der Thomas jeden potentiellen Klangerzeuger ins Visier nimmt – ohne jedoch eine bierernste Miene aufzulegen. Den unbekümmerten und vor allem zielgenauen Spaß, der bisweilen einen Schuss selbstironische Clownerie besitzen darf, hört und sieht man Thomas an. Dass Jens Thomas sich ausgerechnet am Bochumer Schauspielhaus austoben darf, hat einen einfachen Grund. Elmar Goerden, der neue Intendant des Hauses, brachte von seiner alten Wirkungsstätte, dem Bayerischen Staatsschauspiel, seinen »Clavigo« mit, in dem Thomas live auf der Bühne spielt. Den ersten Kontakt zum Theater bekam Thomas aber bereits 2003, als er Luk Percevals »Othello «-Inszenierung in München mit heftigen Klangfarben kommentierte. »In beiden Arbeiten geht es um ein Hörbarmachen des Unsichtbaren «, sagt Thomas. »Beide Regisseure öffnen Räume durch Vertrauen und Freiheit, in denen Neues entstehen kann. Beide Aufführungen leben vom Entstehen-Lassen im Augenblick, von der unmittelbar improvisatorischen Umsetzung innerhalb einer klaren Form, die sich während der Proben herauskristallisiert hat. Die Herausforderung liegt darin, eine wirklich tiefe Verbindung zu schaffen zwischen Theater und Musik, und trotz der vielen Vorstellungen eine gleiche Geschichte jeden Abend aufs Neue zu erzählen, und sich wirklich auf das, was passiert, komplett einzulassen.«
In dem Maße wie Jens Thomas sich ständig auf unbekanntes Terrain vorwagt, scheut er auch mögliche Konsequenzen nicht. Seine aktuelle CD »Lunarplexus«, die er mit Saam Schlamminger eingespielt hat, musste er gerade im Selbstverlag veröffentlichen. Der Mitschnitt einer sechsstündigen Session passte wohl nicht mehr ins Programm jenes Labels, bei dem Thomas vor allem mit zwei Coverversion-Alben von Ennio Morricone und Sting jede Menge Ruhm und Geld eingeheimst hat. Doch schon damals waren für Thomas diese süßen Seiten des Jazzmusikerlebens eben nicht alles. Als der zweite Teil des Morricone-Tributs angedacht wurde, zog er rechtzeitig die Notbremse: »Ich hatte schon Angst, als Hommage-Spezialist abgestempelt zu werden. Deshalb wollte ich auf keinen Fall ›Jens Thomas spielt Morricone Vol. 2‹ aufnehmen. Das hätte sich zwar verkauft, aber mich hätte es frustriert.« Heute hat Thomas jedenfalls wieder ein entspannteres Verhältnis zum Spaghetti-Western- Komponisten. Was auch daran liegen mag, dass er nun selber die Richtung bestimmen kann. In Bochum jedenfalls bekommt Ennio Morricone ein nahezu komplett anderes Gesicht. Statt, wie auf dem Album, mit dem Trompeter Paolo Fresu und dem Akkordeonisten Antonello Salis, arbeitet Thomas nun mit dem Filmemacher und Grimme- Preisträger Christoph Hübner zusammen und verknüpft die Filmmusik auch mit den Bildern Leones.
Ein anderer Wegbegleiter darf bei den Thomas-Festspielen in Bochum selbstverständlich nicht fehlen: »Mit Christof Lauer verbindet mich seit über sechs Jahren eine ganz eigene Art der musikalischen Kommunikation. Ich kenne niemanden, der so auf dem Saxophon singen kann.« Obwohl beiden der Hang zur eingängigen Pop-Melodie nicht abzusprechen ist, wenn sie ihre Köpfe und Instrumente zusammenstecken, liegt das Geheimnis ihres Erfolges auch hier in der Improvisation: »Es gibt in Bezug auf die freie Improvisation den Begriff des ›Instant Composing‹: dass man eben ein Lied spontan erfindet. Bei uns ist das fast der umgekehrte Weg: dass man durch die Interpretation der Komposition in einen Zustand gerät, in dem sie wie neu erfunden klingt.«
Um auf dieses Niveau zu kommen, musste jedoch selbst so ein naturbegabter Jazzmusiker wie Thomas die Ochsentour durch Clubs durchlaufen. Zumal er als Spätstarter zum Jazz kam. Nach den vom Vater verordneten Knebelstunden am Klavier und der misslungenen Aufnahmeprüfung in der Klassik-Abteilung an der Hannoveraner Musikhochschule war Thomas immerhin schon 21 Jahre alt, als er in Hamburg Dieter Glawischnig begegnete, dem » Mutmacher mit großem Herz«. Erst in der von Glawischnig geleiteten NDR Big- Band lernte Thomas das Handwerk von der Pike auf. Es folgten auf Anhieb Projekte mit Albert Mangelsdorff und Carla Bley sowie auf Einladung des Goethe-Instituts Gastspielreisen mit seinem Trio »Triocolor« nach Afrika und nach Ho-Tschi-Minh-Stadt. Mit dieser Art von polyglotter Polyphonie erwarb sich Thomas das nötige Rüstzeug, mit dem er seitdem auf jede musikalische Situation schnell reagieren kann. »Denn genau das interessiert mich: die Dissonanz, die Expressivität, die Schattenseiten der Musik und dann wieder das andere Extrem, die Sehnsucht nach dem Schönen, dem Reinen.« In solchen Momenten genießt er dann einfach die Zweisamkeit mit seinem Flügel. //
Jens Thomas spielt am 26.1.2006 (Jens Thomas solo), 23.2.2006 (mit Christof Lauer, Saxophon), 6.4.2006 (mit Christoph Hübner, Film), 11.5. und 8.6.2006 in den Bochumer Kammerspielen. www.schauspielhausbochum.de