Zwei Ausstellungen unter einem Dach, doch deutlich voneinander geschieden, widmen sich Künstlern, die sich mehr von Konzepten als von Wahrnehmungen leiten lassen und dabei den Zeitsinn verinnerlicht haben. »Time Lines«, die Schau im Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, enthält im Kern einen 17-minütigen Film der Biennale-Künstlerin Runa Islam. Um ihn herum gruppieren sich Werke etwa von Silke Schatz, Steven Claydon, Gego oder Nairy Baghramian, in denen sich das Phänomen Zeit höchst abstrakt spiegelt.
Wenn Runa Islam aus Bangladesh die Bilder einer über Barcelona hinweg gleitenden Seilbahn behutsam und derart verlangsamt einfängt, dass sich der konkrete Ort erst allmählich zu erkennen gibt, belegt dies, dass es ihr nicht um Stadtansichten geht. Vielmehr liefert sie poetische Bilder des Übergangs zwischen den Zeiten. Man hört Fahrgeräusche, vielleicht den Wind, sieht den weiten Himmel, bizarre Stahlkonstruktionen und hohe Türme, auf denen Menschen in Kostümen aus verschiedenen Zeit stehen. Kein Warten auf jemand, der nicht kommt, sondern das Verweilen an der Schwelle zu einem fernen Ziel wird da inszeniert. Man plaudert, schaut für sich, trinkt Champagner. Während Runa Islam den Menschen als Passagier begreift, der mit dem Raum auch die Zeit überschreitet, und ein stilles Lob auf rites de passage anstimmt, zieht der 1949 in London geborene John Stezaker es vor, das Unauffällige zu vergrößern, bis ein Augenblick am Rande eines Ereignisses aufblitzt. Er greift auf klassische Stadtansichten aus seinem Archiv zurück und rückt die zufällig in das Foto geratenen Miniszenen ins Zentrum seiner Wahrnehmung, indem er alles andere ausradiert. Im Grunde zwingt er dazu, sich mehr Zeit bei der Identifizierung kleinster Figuren zu lassen, die Straßen überqueren, Plätze und Trottoirs bevölkern. Das Zeit-Haben wird zur Lebenskunst erklärt
. Parallel nutzt die Kunsthalle ihre Raumkapazität für den ersten retrospektiven Blick auf Allen Ruppersberg in Europa. Den amerikanischen Konzeptkünstler zu verstehen, fordert den Besucher ziemlich heraus. Im großen Saal tritt man auf einen grauweiß karierten, mit sieben Künstlernamen samt Geburts- und Todesjahr versehenen PVCBodenbelag. Was das Septett miteinander verbindet, ist das Sterbedatum, eine Zeitmarke: James Lee Byars, Roy Lichtenstein, Martin Kippenberger, William Burroughs, Willem de Kooning oder auch Allen Ginsberg sind 1997 verstorben. Als Trauerarbeit verfasste Ruppersberg, dessen Karriere im Los Angeles der späten 60er Jahre startete, einen knappen Abschiedsbrief an seinen Club der toten Künstler. Gegen Ende des »Letter to a friend« teilt der 1944 in Cleveland geborene und in New York wohnende Ruppersberg mit, was er plant: »Zeitserien« zeichnen. Der Schlaks mit dem Ohio-Sound in der Stimme fertigt von den aus Zeitungen gerissenen Todesanzeigen eine Reihe akribischer Zeichnungen an und notiert darunter die dafür benötigte eigene Zeit – insgesamt 185 Stunden. Wer am Grabbeplatz zu entziffern versucht, was auf dem Boden verewigt steht, kommt sich vor, als sortiere er Teilchen eines Puzzles. Offenbar sind die wenigen Zeilen an die in den Himmel Eingegangenen adressiert. Nur aus der Vogelperspektive lässt sich so etwas wie eine riesige Buchseite erkennen mit der notierten Erinnerung an Ruppersbergs Kunst-Engel.
Überall ist Indifferenz gegenüber dem Bild spürbar, die der Schrift eindeutig den Vorzug lässt. Bis unter die Decke des Saals klebt wandfüllend eine Unzahl »singender Poster« mit einer Anmutung von Reklame in leuchtend grellen Farben, auf denen einem mitunter ein »Nein« oder die Aufforderung entgegenspringt, nach Freitickets zu fragen. Letztlich hat Ruppersberg, der die US-Kunstszene vitalisierte, das legendäre, in Lautschrift übertragene Gedicht »Howl« (Atemlinien) von Ginsberg mit 200 Plakaten aus dem ganz normalen Leben kombiniert. Und zwar so, dass beides spurlos ineinander übergeht. Eine dezente Ermunterung zum lauten Lesen.
Gegenüber ist ein Wohnwagen so aufgeklappt, dass der mit Büchern, allerlei Artefakten, Gegenständen wie Briefmarken, Postkarten, Vasen, Gefäßen und einem Kreuz atmosphärisch aufgeladene Innenraum wie durch ein Schaufenster zu besichtigen ist. Die Literatur sowie ein schwarzweißes Filmplakat mit Offiziers-Gesichtern erinnern an den absurden Kampf um »Die Brücke von Arnheim« kurz vor Kriegsende 1945. Binnen einer Woche hatten die Alliierten, Polen, Niederländer und Briten, bei der Schlacht nahezu achttausend Opfer zu beklagen. Um der Toten zu gedenken, brachte der Pazifist Ruppersberg anlässlich seiner Beteiligung an der »Sonsbeek-Biennale 93« in Arnheim in Erfahrung, welche Bücher von den Soldaten (auch auf deutscher Seite) womöglich gelesen wurden. Aus den zwanzig ermittelten, zwischen 1920 und 1944 international besonders populären Büchern wählte er fünf aus. Lediglich eines davon ließ er originalgetreu in einer Hunderter-Auflage, die restlichen lediglich als Blindbände mit leeren Seiten nachdrucken. Bei seinen Recherchen entdeckte er zahlreiche Exlibris aus damaliger Zeit, von denen er jeweils eines den fünf Nationen zuordnete. Mithilfe der eingetragenen Namen der 2000 Gefallenen in die Exlibris wird suggeriert, dass sie in Gedanken an das Gelesene den Tod fanden. Eine Reflexion über das Leben im Wissen um seine Endlichkeit ist nicht nur hier das Thema Ruppersbergs. Worum es ihm bis heute geht, lässt sich weder mit Begriffen wie Skulptur, Malerei oder Installation noch mit herkömmlichen Einordnungsschemata erfassen. Wie John Baldessari, Paul McCarthy, Bruce Nauman oder William Wegman ist er von der Atmosphäre und den Widersprüchen in L.A. inspiriert. Die Zukunft der Kunst sieht er in der Auflösung der Grenzen zwischen den Gattungen, weil sich die Welt mit all ihren Facetten und Unzulänglichkeiten nur so als enzyklopädisches Gedicht fassen lässt. Dabei soll jedes Werk den Geruch des Ortes verströmen, auf den es sich bezieht. Von sich selbst hat er einmal gesagt, er verwende seine Lebenszeit, um Kunst zu machen, und diese wiederum, um sein Leben zu verändern. //
Allen Ruppersberg, »One of Many – Origine and Variants« und »Time Lines«, jeweils bis 19. Februar 2006; www.kunsthalle-duesseldorf.de und www.kunstverein-duesseldorf.de