Dies ist eine schreckliche Ausstellung. Schon nach drei, vier Schaukästen, nach wenigen Videominuten, nach ein paar Metern möchte man selbst: fliehen. 60 bis 80 Millionen Menschen sind im Laufe des 20. Jahrhunderts zur Flucht gezwungen worden, durch Schnee und Eis, durch die Wüste, über Flüsse.
Da rennen sie wie die Hasen oder schleppen sich und ihr bisschen Habe mit letzten Kräften, gejagt von Panzern, getrieben von Soldaten, gedemütigt von Machthabern und Mitbürgern.Liegen erschöpft am Straßenrand oder verdreht im Dreck, tot. Am Ende des Zweiten Weltkriegs sind 20 Millionen Europäer heimatlos. Mehr als 12 Millionen davon sind Deutsche.
Angefangen hatte das Jahrhundert der Vertreibung mit anderen Nationalitäten, doch sofort im großen Maßstab. Zwischen 800.000 und 1,4 Millionen Armenier kommen durch die Hand des türkischen Militärs sowie durch Vertreibung in die syrische Wüste ums Leben, die meisten zwischen 1915 und 1917. Es ist ein geplanter Genozid, kein wildes Pogrom: Mit dem 20. Jahrhundert ist die Vorstellung herrschend geworden, nur auf ethnisch homogenen Territorien könnten sich stabile Staaten bilden. 1913 wird dieser Gedanke erstmals zum Staatsvertrag, als die Türkei und Bulgarien den »Austausch« jeweiliger Bevölkerungsteile nachträglich sanktionieren; 1923 im Vertrag von Lausanne, der die – längst vollzogene – Verschiebung von hunderttausenden Griechen und Türken regeln soll, ist dieses Prinzip bereits das völkerrechtlich anerkannte Muster, dem dann im August 1945 auch die Konferenz von Potsdam folgt: Da beschließen die Alliierten die »Überführung « der deutschen Bevölkerung aus den deutschen Ostgebieten, Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn nach Kerndeutschland.
Unzählige staatliche Kriege, von Ruanda bis Jugoslawien, folgen bis heute dieser Spur. Das eine ist die Vor-, das andere die Nachgeschichte. Die Hauptgeschichte dieser Dokumentation ist deutsch und schwierig genug.»Flucht, Vertreibung«, nennt die Ausstellung sich, aber auch: »Integration«. Man wird bald sehen, dass dieses letzte Titeldrittel kein Synonym für ein »Ende gut« im Haus der Geschichte darstellt. Denn der massenweise erzwungene Heimatverlust stellt auch 60 Jahre danach ein Th ema von großer emotionaler Brisanz dar, wie eine demoskopische Umfrage im Auft rage des Bonner Geschichtsmuseum ergab: Es rangiert (im Westen) auf dem zweiten Platz hinter dem Thema Nationalsozialismus, vor »DDR« und »Wirtschaftswunder«.
Dieselbe Erhebung ergab eine Mehrheit von 61 Prozent Polen, die eine staatliche Rückforderung polnischer Gebiete durch eine deutsche Regierung für »wahrscheinlich« hält.
Zurück zum Beginn der Vertreibung und damit an den Anfang der Ausstellung, der allerdings mit seinem emotional orchestrierten Startarrangement die Assoziationen entlaufen lässt: Videos, Fotos, Audiobeispiele stellen klar, dass diese Schau auch überwältigen will. Etwas verwirrend ist für den historisch durchschnittlich versierten Ausstellungsbesucher zunächst das Vor-, Nach- und Gegeneinander diverser Balkankriege, bessarabiendeutscher Heimkehraktionen nach Großdeutschland oder sudetendeutschen Widerstandes gegen tschechische Diskriminierungspolitik.
Vertreibung ist multikausal und anfangslos, lautet wohl die Botschaft , der auch alle, durchweg unerläuterten Filme folgen. (Singulär hingegen, böse und banal das Geheimprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt in der Vitrine: zwei läppische, mit tanzenden Schreibmaschinenbuchstaben bedeckte Blätter.) Hinter einer Art Höllenpforte, die an den Seiten und der Decke mit Fotos von Babi Jar, Lidice, Leningrad, von Deportation, Erschießungen, Erhängungen durch deutsche Einsatztruppen und Soldaten gepfl astert ist; nach diesem notwendigen argumentativen Durchgang durch das Tor der Urtat öff net sich der Raum wieder, und zugleich verengt sich der Blick aufs Generalthema: die Vertreibung der Deutschen am und nach dem Ende des Weltkriegs.
Sie setzt ein, nachdem fünf bis sechs Millionen Polen und um die 20 Millionen Sowjetbürger den rassenideologischen Raubkrieg der Deutschen mit dem Leben bezahlt haben.Am 12. Januar 1945 beginnt die Westoffensive der Roten Armee. Die aus den Ostgebieten fl iehenden Deutschen erleiden ein Martyrium, das für viele im Kältetod, in der Explosion der Granaten oder unter Panzerketten endet. Damit ist die Vertreibung im großen Stil längst im Gange, als »Potsdam« tagt; dass sie eben nicht »in ordnungsgemäßer und humaner Weise« verläuft , wie die Großen Drei dies zur Selbstberuhigung beschließen, zeigen links Großfotos, rechts verwaschene Filmausschnitte, krakelt der von einem in die Sowjetunion verschleppten Mädchen geschriebene Brief an die Eltern, erzählen Zeitzeugenstimmen aus dem Ohrhörer.
Verwischte dunkle Flecken ziehen über graues Eis, erkennbar sind Wagen und Pferde, der Blick fällt von oben, der Horizont liegt schräg: ein Flüchtlingstreck auf dem Frischen Haff , fotografiert aus der Kanzel eines sowjetischen Jägers, vielleicht Momente, bevor der MG-Schütze zu feuern anfängt. Was zeigt jenes andere Foto in dem dunklen Haufen rechts, an dem in dichter Folge sowjetische Panzer vorbeifahren? Überrollte Menschen? Im April 1945 ruft die neue tschechische Regierung unter Benes die Bevölkerung auf, sich an den Deutschen, diesem »einzigen großen menschlichen Ungeheuer«, zu rächen. In der kurzen Zeit bis zum Potsdamer Abkommen werden 800.000 Sudetendeutsche mit einer Armbinde gebrandmarkt (N für Nemec, Deutsche) und vertrieben. Sie kommen im besetzten Restreich an; die Passagiere der »Wilhelm Gustloff « dagegen nur auf dem Meeresgrund, als das Flüchtlingsschiff am 30. Januar 1945 vom sowjetischen U-Boot S 13 versenkt wird. Ein kleiner Raum ist dem Schicksal der wohl 9.000 Ertrunkenen gewidmet, zeigt Ausschnitte aus dem Kinofi lm »Nacht fi el über Gotenhafen« (1959, mit Sonja Ziemann), aber auch ein Foto vom Ehrenmal für den U-Boot Kommandanten Alexander Marinesko, der 1990 (!) posthum für diese und weitere Versenkungen zum »Held der Sowjetunion« avancierte. Eine Vitrine mit einem Dutzend vor Günter Grass’ Gustloff -Novelle »Im Krebsgang« erschienenen Büchern zum Th ema beweist, was später in der Ausstellung noch deutlicher werden wird: Es gab in der Bundesrepublik kein Tabu, über die Vertreibung zu sprechen. Wenngleich die Darstellung der Deutschen als Opfer erst spät höchste literarische Weihen sowie Eingang in die offiziöse deutsche Publizistik à la Spiegel oder Zeit fand.
Wie alt ihr Baby sei, hatte Maria Baumann die junge Frau gefragt, die auf der Flucht aus Masuren neben ihr ihren Kinderwagen schob.Tot, hatte die Frau geantwortet, aber sie wolle es nicht zurücklassen. Der Erlanger Soziologe Michael von Engelhardt hat für die Ausstellung mit 15 Vertriebenen lange Interviews geführt, die Erlebnisse und Erfahrungen dieser Menschen sind stationenweise per Kopfhörer zu hören, beginnend mit der Flucht, endend mit der allmählichen Integration in die neue Heimat. »Meine Heimat ist hier«, sagt Frau Baumann am Ende, und meint nicht Ostpreußen, wo sie 1921 geboren ist, sondern Bayern.
Davor liegen viele Jahre Qual, steht zunächst für die, die die Flucht überlebt haben, die Ankunft in einem zerstörten Land, die Unterbringung in Nissenhütten (halbierten Wellblechtonnen), Holzbaracken oder bei fremden Leuten, die sie nicht wollen und die selbst nichts haben. Vor einer solchen Baracke steht der Besucher nun, sie ist eine der letzten noch erhaltenen originalen, stammt aus Furth im Wald. Wie macht man Museumsbesuchern historische Situationen deutlich, die jenseits der eigenen Erfahrung liegen? In der vielleicht 40 Quadratmeter messenden Hütte stehen ein paar schlichte Einrichtungsgegenstände, Pritsche, Kochkiste – man müsste 15, 20 Menschen hier hineinpacken, die weinen, schimpfen, lärmen, schnarchen, riechen. Um kenntlich zu machen, was es bedeutet, dass kurz nach dem Krieg in den Westzonen mehr als 15 Prozent, in der SBZ zirka 25 Prozent der Bevölkerung Flüchtlinge aus dem Osten sind. (In der BRD werden es bis 1961 durch DDR-Flucht beinah genauso viel.) Zwiegespaltene Menschen, die eine Bleibe haben, aber keine Heimat. Die bleiben müssen, um zu überleben. Und zugleich von Sehnsucht nach zu Hause geschüttelt sind.
An dieser Stelle sind wir noch nicht weit vom Anfang der Ausstellung entfernt – da wird deutlich, dass es auf dem Großteil der Fläche (etwa 650 Quadratmeter) nicht um Vertreibung, sondern um Integration geht.
Das verringert die Dramatik, aber vermehrt die Zahl der bisher nicht gestellten Fragen.
Zum Beispiel, wie die DDR mit ihren vier Millionen Flüchtlingen umging. Sie tat dies, erfährt man, auf später noch vielfach erprobte Weise, nämlich per Ignorierung und Sprachmagie.
Die Flüchtlinge hießen (auf Befehl der Sowjetunion) Umsiedler, später Neubürger.
So konnte dass Problem bereits 1948 für gelöst erklärt werden. Seltsam nur, dass das beliebte Fleischgericht Königsberger Klops in der DDR ein verbotenes blieb, Fleischklops hatte es zu heißen. Seltsam auch, dass Heiner Müllers Theaterstück »Die Umsiedlerin« noch 1961 sofort nach der Uraufführung verboten und sein Autor aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen wurde, weil das Drama die heile Alt- und Neubürgerwelt ankratzte.
Nicht weniger seltsam aber mutet ein US-Dokumentarfilm von 1947 an, der mitfühlend deutsches Flüchtlingselend zeigt und mit den Worten endet: »Six million children need our help«. Ausgerechnet sechs Millionen.
Etwa 200.000 deutsche Flüchtlinge sind nach dem Krieg in Dänemark gestrandet, sie bekommen eine kleine Broschüre ausgehändigt, deren Titel fragt: »Weshalb sind die Dänen so unfreundlich?« Die Antwort (die der Ausstellungsbesucher leider nicht zu lesen bekommt) dürfte eindeutiger ausgefallen sein als die auf die damals wohl tausendfach gestellte Frage, warum denn die Deutschen zu den Deutschen so unfreundlich sind – die nämlich, die durch ihre Stadtverwaltung aufgefordert werden, zusammenzurücken und den freigewordenen Wohnraum mit Flüchtlingen zu teilen, welche meist mit einer amtlichen »Zuweisung gem. Kontrollratsgesetz Nr. 18, Art. VIII« in der Hand vor der Tür stehen, Küchenmitbenutzungserlaubnis eingeschlossen.
Was das alles bedeutete, lassen auch die 1500 Ausstellungsstücke bestenfalls erahnen, es gibt in der ganzen Geschichte kein vergleichbares Beispiel einer solchen Bevölkerungsverschiebung – und ihres Ausgleichs in dermaßen kurzer Zeit. Zudem in einem Land, das besiegt, besetzt, zerstört und ausgehungert war. Die Flüchtlingsfrage stellte den hoch explosiven Kern der jungen bundesrepublikanischen (Sozial-)Politik dar, er wurde entschärft durch breitflächige Verteilung der Flüchtlinge im Land sowie das Verbot eigener politischer Parteien (beides, um keine Minderheiten entstehen zu lassen), durch ein kompliziertes Lastenausgleichssystem, durch Gesetze wie das Bundesvertriebenengesetz, durch eine moderate Bevorzugung Vertriebener (etwa bei der Vergabe öffentlicher Aufträge), vor allem jedoch durch massiven Wohnungsbau sowie insgesamt durch das beginnende Wirtschaftswunder.
Die Adenauerrepublik verleugnete die Naziverstrickung ihrer Elite und Bevölkerung; ihr Flüchtlingsproblem verleugnete sie nicht. Ebenso wenig diese Ausstellung: Aus einem Lautsprecher tönen ununterbrochen die Beleidigungen (»faul, unkultiviert, verlaust«), die den Zugewanderten in den ersten Jahren wohl nicht zu knapp um die Ohren flogen; in einer Kabine laufen Ausschnitte aus manchen der unzähligen Filme, in denen, zumindest in Nebenrollen, die Flüchtlingsproblematik zum Thema wurde: »In jenen Tagen« (1947, Regie Helmut Käutner), »Film ohne Titel« (1948, mit Hilde Knef) oder »Grün ist die Heide«, ein kitschiger Heimatfilm von 1951, der dennoch ein wichtiges Plädoyer für eine menschliche Behandlung der Ostflüchtlinge hielt. Allmählich glättet sich das Bild: Die Integration der Millionen Vertriebener ist auf gutem Weg, die Neuen verlernen ihren angestammten Dialekt (in Tonbeispielen zu hören), erarbeiten sich Wohlstand, stärken ganze Wirtschaftszweige; an den Wänden erscheinen Betriebsgründungsurkunden, Diplome, Modelle von Eigenheimen. Die Schau bekommt mehr und mehr etwas Langweilig-Eifriges – vielleicht aber auch nur, weil sie nun die Austauschbarkeit gelingender bürgerlicher Biografien dokumentiert. Eins glaubt man zu erkennen: Je stärker die Integration voranschreitet, desto verbissener werden die Ikonen der versunkenen Herkunft hochgehalten: »Heimatstuben« entstehen überall im Land, gefüllt mit den Devotionalien des verlorenen Ursprungs. Hier sind sie sämtlich – eine Distanzierungsgeste? – nur per Spiegel zu besehen.
Doch dann kommt die Dramatik zurück und die Erinnerung des Besuchers daran, dass es doch ein Vertriebenentabu in der Bundesrepublik gab, das Tabu von »linker« Seite, sich mit den Problemen der Vertriebenen auch nur zu befassen: Grund war deren über lange Jahre andauernde revanchistische Aggressivität. »Freiheit für Schlesien«, ruft ein Plakat zum Vertriebenentreffen 1959 in Köln von der Ausstellungswand. Das sollte ja heißen: Wir wollen es wiederhaben. Die Unfähigkeit zu trauen auch in diesem historischen Fall. Verniedlicht die Ausstellung diese Töne nicht etwas zu sehr? Von antiker Dimension erscheinen in Videos die Bundestagsreden zu den Ostverträgen 1972, wie als habe sich das Land kurz vor einem Putsch von rechts befunden. Tatsächlich kam das ganze Land erst damals in der Nachkriegszeit an.
Ist die Ausstellung historisch und politisch korrekt, legt sie genug Wert auf das Leid der einen, der andern Seite, beachtet sie alle Zusammenhänge von Ursache und Wirkung? Dumme Frage, notwendige Frage; grosso modo mit Ja zu beantworten. Und indem sie das Schwergewicht auf die Integration legt, weicht die Ausstellung dem Vorwurf aus, das Leid der Deutschen unzulässig in den Vordergrund zu rücken. »Flucht, Vertreibung, Integration« endet mit Dokumenten vom Wiederhochkommen der Vertriebenenfrage im Zuge der Osterweiterung der EU und dem leidigen Vertriebenenzentrum Erika Steinbachs. Sowie mit einem Ausblick auf die nächste Flüchtlingsproblematik: in Jugoslawien, Afrika und anderswo. //
Bis 17. April 2006. Tel.: 0228/9165-0. www.hdg.de. Der sehr lesenswerte Begleitband zur Ausstellung kostet 19,90 €. Empfohlen seien in diesem Zusammenhang auch das Oberschlesische Landesmuseum in Ratingen (www.oberschlesisches-landesmuseum.de) sowie die Ausstellung »Aufbau West« in Dortmund (www.ausstellungaufbau- west.de)