Harold Pinter würde der Abend gefallen. Martin Crimps »Sanft und grausam« ist die Umschreibung vom mythischen Ende des Herakles, wie es die »Trachinierinnen«, eine Rarität des Sophokles, erzählen. Der tatkräftige Zeus-Spross zerstört eine Stadt samt Einwohner, um sich der jungen Iole zu bemächtigen und mit ihr Ehebruch zu begehen. Was sich als kriegerische Notwendigkeit oder gar als göttlicher Auftrag tarnt, ist Lüsternheit und männliche Eitelkeit. Die sich rächen wird. Seine Gattin Deianeira sendet ihm ein giftgetränktes Gewand, dem sie Liebeszauber zuschreibt, nachdem Herakles ihr auch noch die Geliebte ins Haus geschickt hat. Er stirbt qualvoll. Sie bringt sich um.
Sanft und gediegen beginnt das tragische Todesspiel in der Halle Beuel des Theaters Bonn, die Damian Hitz zur weit gestuften, von Bassins kanalisierten Palast- und schrundigen Felslandschaft kultiviert hat. Die Hofgesellschaft mit der gestylten Film-Beauty Deianeira (Tatjana Pasztor) reiht sich in Casual Wear auf einer Lederbank wie für ein mit Psychologie gefüttertes englisches Konversationsstück – nun kann die Mausefalle zuschnappen. Her Ladyship hat distinguiertes Phlegma, bis das Gesetz der Begierde auch aus ihr bricht. Aber die forcierte Idee des Ingo Berk, durch Gemessenheit das Drama atmosphärisch aufzuladen, trägt nicht. Zeremonielle Leerläufe, Blues-Geklampfe, läppische Videofilmchen (mit Expeditionen in den Mikrokosmos sowie den Bonner Nah- und Fernverkehr) und redundante Doppelungen von Text und Bild zeigen bald nicht mehr die Hybris des antiken Menschen, sondern eines neuzeitlichen Regisseurs. Warum hat niemand diesem falschen Vertrauen in die Fähigkeit, 27 Seiten Text auf zweieinhalb Stunden Spieldauer plus Pause zu verlangsamen und zu verlängern, Einhalt geboten? Bleigrau wie die Szene hängt die zunehmend rhetorische Veranstaltung durch, um in der Elendskundgebung des waidwunden Herakles (Bernd Braun) auszubluten. Abschwellender Bocksgesang, vom Kunstwillen gelähmt.
Bei Crimp mutiert Sophokles zum Zeitstück. Wäre es nicht so schlicht aktualisierend, ließe sich von Dialektik der Aufklärung sprechen. Das politische Manifest will den Westen des moralischen Bankrotts überführen. Herakles verwandelt sich in einen namenlosen General, der sich als Kreuzritter wider den Terrorismus und im Friedenseinsatz sieht, damit seine inhumanen Praktiken rechtfertigt und zudem seine private Obsession für die farbige Laela kaschiert, die er zusammen mit seinem Bastard-Sohn heimsendet. Handelt Sophokles von der Katastrophe der Liebe, so Crimp von Lügen in Zeiten des Krieges. Erzählt der eine von der Fehlbarkeit der Götter und Halbgötter, so der andere von Verbrechen wider die Menschlichkeit. Wird bei Sophokles das Schicksal aufgerufen, so bei Crimp der Internationale Gerichtshof. Man denkt, das Drama müsste noch von etwas anderem handeln. Aber es ist, was es ist. Crimp schreitet die Killing Fields der Genozide ab und weiß die Moral auf seiner Seite. Wilfried Minks kann nicht viel damit anfangen, das ehrt ihn schon wieder. Seine Inszenierung in den Bochumer Kammerspielen verstärkt die Mängel eher, als sie zu kompensieren. Der äußere Effekt dominiert – überdeutlich wie der Helikopter-Lärm aus den Lautsprechern. Ein klinisch kalter Container- Raum; hinterm Sichtfenster patrouillieren Marschstiefel; die Videoüberwachung behält alles im Blick; ein Aufzug bringt die Personen in den Sperrbezirk, wo Amélia lebt wie unter Quarantäne. Umgeben von drei Damen – Überresten des antiken Chors. Haushälterin, Fitnesstrainerin, Kosmetikerin geben bei Minks ein Trio wie aus einer TV-Serie ab, Groupies – eigentlich Blondinen-Witze. Möge es Absicht sein, ihnen den Sound einer Soap zu geben! Zumindest wäre das ein Versuch, die Banalität des Bösen im Trivialen festzumachen. Oder zu ironisieren, wenn der Vertreter der Politiker-Klasse (immer mit Handy am Ohr) sich den Sand aus den Schuhen schüttelt, den er aus Afrikas Wüste eingeschleppt hat. Dagegen sollen zwei Blues-Klassiker den Stoff melodramatisieren. Was auch nicht funktioniert. So wenig wie die symbolische Aufmischung mit Amélias rotem Kleid und anklagend vergossenem Rotwein. Ulli Maier spielt Amélia mit routiniert eleganter Beherrschtheit, als sei sie ohne Zutun auf den sauren Boulevard geraten. Selbst wenn sie ihre chemische Keule einsetzt, bewahrt sie Contenance. Markus Boysen als General gibt, nahezu kabarettistisch, eine Bösewichts-Attrappe wie aus einem Fritz-Lang-Film. Und wird abgeführt zur Anklagebank, die wie Milosevic und Karacic, Saddam Hussein, die Brigadiers von Ruanda und Demokraten wie Bush und Blair bereits vorgewärmt haben. Seine Mission ist gescheitert. Gleiches gilt für Crimps Versuch: Mission Impossible. »Herz, mein Herz was soll das geben? Was bedränget dich so sehr?«, will man mit Goethe emphatisch ausrufen, wenn im Bochumer Schauspielhaus Herzfrequenz-Töne wummern. Im Dunkeln kauert Antigone. Die Sagen des klassischen Altertums, Teil II. Der Clou der Aufführung (Regie Tina Lanik) ist die Bühne und ist der Chor. Magdalena Gut legt einen wie rostig geschmirgelten Kasten quer, der sich um die eigene Achse dreht und wie ein Riesenriegel den leeren Raum abschottet. In ihm und auf ihm wird gespielt, geklettert, paradiert. In der Fläche der Box öffnet sich ein Verschlag: für ein Glück im Winkel, in dem die zur Kleinfamilie Bie dermann geschrumpfte (Chor-)Stimme des Volkes gemütliches Beisammensein pflegt. Der Vater, vielleicht Oberstudienrat (Bernd Rademacher), die ondulierte Hausfrau und Mutter (Manuela Alphons), ihr kniestrümpfiger Backfisch (Karin Moog) marthalern ein wenig, lächeln naiv versonnen und verkünden die dumme Illusion eines »Friedens«, den Antigone bereits bricht, indem sie den landesverräterischen Bruder Polyneikes bestattet und für diesen Akt der Rebellion von Kreon mit dem Tode bestraft wird. Betreten betrachten die drei Mitläufer das sich entwickelnde Geschehen, bringen dabei kaum Sinn und Verstand auf für größere Zusammenhänge und Schicksalsfragen, offenbar vom Virus der Unfähigkeit zu trauern infiziert. Nach einem Krieg wie dem der Sieben gegen Theben beginnt schließlich der Wiederaufbau und man frönt der mit Tanzmusik leicht zu erzielenden Lust des Vergessens. Nur Antigone hat ein längeres Gedächtnis. Hanna Scheibe weiß nicht so recht wohin mit ihrer Energie, die der unartige Trotzkopf ungelenk mal in geballten Fäusten sammelt, in sprunghaftem Hüpfen los wird, wobei das vergossene Blut des Bruders aus den Gummistiefeln schwappt, oder bei entblößter Brust in gefasster Weheklage spendet. Mit Alexander Kluge scheint sie zu spüren, dass »in Gefahr und größter Not der Mittelweg den Tod bringt«. Aber ihr Extrem geht uns so wenig an wie die Ekstase des Haimon (Oliver Möller), das Knattern des Teiresias (Manfred Böll) oder die Gymnastik der Eurydike.
Kreon (Thomas Anzenhofer) als in schöner Mittellage sprechender Ordnungspolitiker, der lieber Abendanzug trägt als Militärstiefel, im Seminar Staatsrecht gepaukt hat und zu sehr Manieren besitzt, als dass er mehr als nur ein bisschen über den Ausnahmezustand verfügen möchte, gewinnt die deutlichste Kontur. Doch dass er sich am Ende vergebens gegen Mauern anstemmt und in Antigones Blutkleid hüllt, will nicht zu diesem moderaten Politprofi passen, weshalb der die Todesfälle annoncierende naseweise Bürobote (Henning Hartmann) Kreons Verhalten gewiss als unpassend empfindet.
Dies also wäre des Königs neues Kleid – ein spießig bürokratisches Trauerspiel. Am Ende vom Lied ist nichts gewesen. Tina Laniks noch in ihrem Farbsortiment geschmackvolle, mit Geschick und Chique arrangierte Aufführung lässt herzlich kalt. Eine Designer-Arbeit, zu nominieren für den im benachbarten Essen verliehenen Red Dot Award.