Das Aachener Theater beim Camping- Ausflug? Geschlossen zeigte sich der klassizistische Schinkel-Tempel in der City zu Beginn der Spielzeit. Vor seinen Säulen spannte sich eine Plane mit dem Hinweis: »Sind im Zelt«. Draußen vor der Stadt, unter einem 16 Meter hohen blauen Plastikhimmel, hatte der neue Intendant Michael Schmitz-Aufterbeck mit seinem Team losgelegt. Unter erschwerten Bedingungen also: Wind und Regen ausgesetzt, abgeschoben an die Peripherie. Fast wie im London des 16. Jahrhunderts, als die ersten Theater außerhalb der Stadtgrenzen errichtet werden mussten, aus Angst vor Feuer, Seuchen – und der Unmoral.
Tatsächlich, in Leo Tolstois »Anna Karenina « drohten zum Saison-Start Ehebruch-Eskapaden, doch echauffiert sich deswegen heute noch jemand? Nein, das Exil hatte einen pragmatischeren Grund: Für 2,7 Millionen Euro erhielt das Theater eine neue Obermaschinerie, dazu renovierte Foyers. Daher erblickten die ersten drei Produktionen – neben der Adaption des russischen Romans auch Verdis Oper »Otello« und das Familienstück »Die rote Zora« – im Viermastzelt auf dem Reitturniergelände das Bühnenlicht, auf einer 15 mal 15 Meter großen Fläche, umgeben von drei Tribünen, ohne Vorhang, ohne Kulissen. Eine künstlerische Herausforderung. Jede Aufführung ein Kampf mit dem Raum. Ergebnis: Anna Karenina taumelte, Otello hielt sich wacker, Zora triumphierte.
Aus Tolstois gut 1000-seitigem Gesellschaftspanorama extrahierte die neue Chefdramaturgin Ann-Marie Arioli 50 Szenen, aus denen der neue Chefregisseur Ludger Engels einen langen Tolstoi-Trümmer-Abend mit viel Musik, Tanz und Rutscherei, mit simultanen Aktionen und alternierenden Erzählern bastelte. Hängen bleiben davon ein paar eindrückliche Bilder und die Erkenntnis, dass diese offene Form im offenen Raum zum Abschweifen verleitet – der Blicke und der Gedanken. Die Tücken des Zeltes überspielten die beiden anderen Aufführungen viel geschickter, indem sie den großen Vorteil der Arenabühne nutzten: die Nähe zum Publikum. Otello schaffte es zudem, selbst die wummernden Bässe der benachbarten Disko zu übertönen, Zora und ihre Bande erhielten gegen die miserable Akustik Unterstützung durch Mikros.
Insgesamt jedoch geriet der wohl auch als Marketing-Gag geplante Zelt-Ausflug zum Zuschauer-Flop. Und im wieder eröffneten Großen Haus scheint sich diese Flaute nun fortzusetzen. Die Deutsche Erstaufführung des Schauspiels »Schienen« aus der Hand der Belgrader Autorin Milena Markovic verschreckt viele Zuschauer, denn viel mehr als kämpfen und ficken passiert nicht zwischen den eintönigen Kriegsjugendlichen, die Regisseur Thomas Oliver Niehaus durch eine poppige Nummernrevue schickt.
Und im Musiktheater? Intendant Paul Esterhazy war es in den vergangenen Jahren mit Uraufführungen und Ausgrabungen gelungen, wieder Kritiker überregionaler Feuilletons in den Westzipfel NRWs zu locken und positiv zu überraschen. Sein Nachfolger Schmitz-Aufterbeck, zuvor Operndirektor in Luzern, setzt erst einmal auf Mozart, allerdings den etwas unbekannteren. »La Clemenza di Tito« bildete den Auftakt einer Tetralogie seiner Herrscherdramen in Koproduktion mit dem Theater Freiburg. Während Regisseur Ludger Engels unter dem unpassenden Outfit der bundesrepublikanischen 80er Jahre konventionelles Rampentheater versteckt, entdecken die Zuhörer im historisierenden Klanggewand mehrere Stimmen mit Zukunft. So ist »Titus« immerhin ein musikalisches Ereignis weit über dem üblichen Stadttheater- Niveau. Ein Glücksfall für Aachen, dass Generalmusikdirektor Marcus R. Bosch seinen Vertrag bis 2011 verlängert hat; ein Plus von 80 Prozent kann der 36-jährige Dirigent etwa bei den Konzertbesuchern verkünden. Damit das Publikum auch ins Schauspiel strömen möge, legt sich das junge Ensemble vor allem auf der Experimentierbühne Mörgens ins Zeug. Zum Beispiel bei der Uraufführungs- Trilogie »TraumStadtSaga« mit Texten von Sigrid Behrens, Mirjam Strunk und Gerhard Meister, die zusammen mit Architekturstudenten Stadtvisionen für Aachen entwerfen sollen. Bisher sind die lokalen Bezüge etwas verkrampft: Der schwarzgelbe Alemannia-Schal der Zweitliga-Kicker darf ebenso wenig fehlen wie rhythmische Regentropfen (das Aachener Standard-Wetter). Aber die jungen Zuschauer rennen dem Theater nicht gerade die Bude ein… Das neue Team ist noch nicht in Aachen angekommen – zumindest nicht beim Publikum.
Man muss ihm Zeit geben. »Die Aachener sind abwartend«, weiß Publikumsliebling Bosch. Doch bei ausbleibender Nachfrage an der Kasse ist es wohl auch nur noch eine Frage der Zeit, wann die sogenannten Kulturpolitiker in der verschuldeten Stadt wieder drohend die Subventionskeule schwingen. Nicht zuletzt deswegen hatte Esterhazy Reißaus genommen. Muss man sich Sorgen machen, wenn der neue Intendant betont, das Spielzeitmotto »glücklich überleben« sei nicht ironisch gemeint?