TEXT: ULRICH DEUTER
Den Beruf des Seekapitäns umgibt der Freiheitsnimbus der Ozeane; ein Binnenschiffer hingegen taugt eher als Synonym für Enge und Spießigkeit. Insofern bedeutet, dass der Flussschiffkapitän Thomas seine Profession nicht länger ausüben darf, keinen zerbrochenen Lebensflügel. Vielmehr wird sein durch Verlust des Patents erzwungener Landaufenthalt zum Anlass einer viel größeren Fahrt, als es der Stück- oder Schüttgut-Transport zwischen Kanalufern je war: Es beginnt das Schweifen hinaus aufs Meer der Erinnerung. Thomas, jenseits der Fünfzig, hatte immer das Wasser gereizt; das bekommt er auch jetzt, obwohl nicht mehr auf oder am Fluss lebend, im Übermaß. Denn in dem wendländischen Dorf, in das er gezogen ist, auf den Wanderungen, die er allnächtlich auf »mit Lehm zugeschmierten Asphaltwegen« unternimmt, regnet’s ohn’ Unterlass. So lange, bis in der letzten der »zehn Regennächte«, die die Buchkapitel markieren, das Land versinkt.
In Loschütz’ Roman – eher eine Erzählung – geschieht nicht viel; der Ich-Erzähler Thomas notiert das Wetter, die Varianten eines ewigen Novembers, er nachtwandert – ja, und eine Weile lang gestattet er einer Nachbarin, ihn sexuell zu missbrauchen. Das Buch beherrschend, all seine Szenen und Lokalitäten gleichermaßen tränkend, ist vielmehr eine Stimmung: Undurchschaubarkeit, Unheil. Dabei wäre »Dunkle Gesellschaft « depressiv zu nennen, sicher falsch, es ist nicht einmal besonders melancholisch. Man könnte vielleicht sagen, in ihm herrscht ein tiefes Vertrauen in die Hoff nungslosigkeit. Und das Buch ist ja dennoch handlungsreich: Kleine Signale – und schon ist Thomas zurück in der Vergangenheit, in jeder der Regennächte in einer anderen Episode. Und wir mit ihm. Im Royal Naval College in Greenwich bekommt er seine Ausbildung, in Manhattan tritt er seine erste Stelle an, später, nach dem Verlust seines Kahns »an die Verschrotter«, bringt ihn ein Schlafwagenschaff nersjob nach Rom; wieder zu einer anderen Zeit ist er als Ersatzkapitän eines Donaufrachters in Wien zum Warten verurteilt, weil der Regen die Ufer weggeschwemmt hat. Schon damals, schon immer regnete es; und in jeder der Stationen seines Lebens herrschte Unsicherheit, Instabilität; verschwanden Menschen, tauchten andere auf, deren Identität und Absicht im Unklaren blieben. Wer hat die Unbekannte aus der Seilerei ermordet, die Thomas gern kennen gelernt hätte, was hat Mirko, sein Bootsmann, mit ihr zu tun? Wohin sind der Mitkadett Daniel, die Schulfreundin Katharina, der Kollege Wilhelm verschwunden? Was bedeutet die Zahlenkombination Null vierzig? Einmal ist Thomas auf der Spur eines mysteriösen Mannes mit Namen Glendenning, er schleicht ihm nach in Szenen wie aus einem fi lm noir, gerät in einer obskuren Sekte an Glendennings Stelle und erfährt, »dass ich ein Erwarteter war, den keiner benötigt hatte. « Das Leben ein Wasserfluss, ein Traum.
Thomas ist ein Mann mit wenig Eigenschaft en und ohne Beziehungen. Der Roman aber sucht die bewusste Verwandtschaft zu (schauer)romantischen Vorläufern, namentlich taucht immer wieder dieselbe »dunkle Gesellschaft « auf, weißgesichtig, schwarz gekleidet, die stets eine Serie von Unglücken nach sich zieht. Dass dieses Motiv, so spekulativ es ist und bliebt, nicht zum Ärgernis wird, liegt an dem suggestiven Sprachfluss des Romans, an seiner wie selten starken atmosphärischen Kraft , die einfach alles in sich einhüllt, die selber wie die Flut ist, die immer höher steigt. So könnte es weiter und weiter gehen; im Rauschen des Regens, den Loschütz fallen lässt, könnte er uns jede Geschichte erzählen.
Gerd Loschütz: »Dunkle Gesellschaft. Roman in zehn Regennächten«; Frankfurter Verlagsanstalt 2005, 220 S., 19,90 Euro