INTERVIEW: ULRICH DEUTER
K.WEST: 50 Jahre WDR heißt auch 50 Jahre Hörspiel. Die Anfänge liegen vor Ihrer Zeit und die damaligen Macher leben nicht mehr. Die Schriftsteller, die in den Anfangsjahren das Hörspiel prägten, hießen Günter Eich, Böll, Frisch, Dürrenmatt, Bachmann. Wo stand der WDR in diesem Szenario?
KAMPS: In der Nachkriegszeit herrschte zwischen den beiden Sendern des NWDR eine Arbeitsteilung: Hamburg bewog die großen Autoren dazu, Original-Hörspiele zu schreiben, Köln adaptierte die große Dramen-, z.T. auch Prosaliteratur für den Funk. Und das in derart prominenten Besetzungen, wie sie eine Bühne so ohne weiteres nicht zustande bringen konnte.
K.WEST: 1956 trennten sich die beiden Sender und der WDR entstand.
KAMPS: Als 1961 beim WDR die Hörspielleitung von Wilhelm Semmelroth auf Friedhelm Ortmann überging, wurden die Adaptionen von Bühnenstücken deutlich zurückgefahren. Ortmann sah seine Aufgabe darin, junge Autoren für die Hörspielarbeit zu gewinnen. Dieter Kühn hat damals angefangen, Günter Seuren, Dieter Forte, Nicolas Born schrieben erste Hörspieltexte für den WDR. Hörspielästhetisch knüpften diese Schriftsteller durchaus an dem an, was Eich, Böll, Frisch unter Hörspiel verstanden, es gab noch nicht das Aufbruchsdenken späterer Jahre. Hörspiel hieß: Man hörte Stimmen, und die waren in aller Regel Stimmen von Figuren. Es wurden Geschichten erzählt.
K.WEST: In den 60er Jahren entwickelte sich dann, was man das Neue Hörspiel nannte. Wann und womit fing das an?
KAMPS: Beim WDR hat diese Entwicklung auch viel mit einer Person zu tun, Paul Schultes, der ab 1968 das Hörspiel leitete und immer versucht hat, eine möglichst breite Palette der Formen und Themen anzubieten. Er hat mich vom Saarländischen Rundfunk geholt, wo das Neue Hörspiel eine seiner Wiegen hatte. Ästhetisch speiste sich diese Entwicklung gar nicht so sehr aus den politischen Quellen der damaligen Umbruchzeit, sondern aus literarischen Nischen, etwa der Konkreten Poesie, oder aus dem Autorenkreis um eine Grazer Literaturzeitschrift, zu dem auch Peter Handke gehörte. Leute, die die Sprache anschauten und sich fragten, was kann ich mit ihr sonst noch machen, außer Geschichten erzählen. Was kann ich aus der Sprache heraushören, an Ideologien, an Mentalitäten. Ein weiterer ästhetischer Schub kam durch den Nouveau Roman, dessen Autoren ihre Stücke nach Deutschland geschleust hatten – Leute wie Michel Butor oder Nathalie Sarraute, die Wirklichkeit nicht in Sprache abbildeten, sondern durch Sprache in Frage stellten.
K.WEST: Die 60er Jahre wären nicht die 60er, wenn es gegen diese Entwicklung nicht Widerstand gegeben hätte.
KAMPS: Sicher. Einige fürchteten den Untergang der Kultur wie der Hamburger Hörspiel-Dramaturg Heinz Schwitzke, bis dann herauskam, dass er schon in der Nazi-Zeit in Uniform vor dem Mikrofon gestanden hatte. Andere mahnten schon damals, man vergraule in einer Zeit, da das Fernsehen einen ständigen Zuwachs an Zuschauern verzeichnete, die letzten Hörer, wenn man Dinge sende, die angeblich keiner verstehe. Das war natürlich ein gebildetes Vorurteil. Ich habe außerdem versucht, neben der experimentellen Spitze auch die bekömmlichere Breite zu stärken. Den »Krimi am Samstag« habe ich 1974 eingeführt und massiv zu stärken versucht. Es gab zu dieser Zeit ja kaum deutsche Krimis, alles spielte in England oder Amerika, na ja, auch in Frankreich. Möglich war das, weil auf dem Buchsektor deutsche Krimiautoren auftauchten, die ihr eigenes Land kritisch unter die Lupe nahmen und die für die Hörspielarbeit zu gewinnen waren.
K.WEST: Das Hörspiel wurde am Sender richtig ernst genommen?
KAMPS: Als ich kam, existierte noch die mit Hamburg gemeinsam betriebene erste Welle, NDR-WDR 1, dort gab es wöchentlich einen Hörspieltermin, alternativ von Hamburg und Köln bestückt. Dann gab es zunächst zwei Hörspieltermine im WDR 2, wo jetzt keiner mehr ist, und einen in WDR 3. Das ist weniger als heute, aber die Auffälligkeit innerhalb der Programme war natürlich viel größer. Schultes hat auch die Internationalität des Hörspiels befördert, es gab Autorentagungen mit Blickrichtung Osten, es gab nicht zuletzt eine große Kooperation mit Südamerika, die über viele Jahre hinweg einen Programmschwerpunkt des WDR bildete und Autoren wie García Marquez, Carpentier, Vargas Llosa, Fuentes versammelte.
K.WEST: Rührt daher die Verbindung des WDR zu Mauricio Kagel?
KAMPS: Der war schon viel früher nach Deutschland gekommen. Und ihn hat mein Kollege Klaus Schöning zum Hörspiel verführt. Schöning hat ja radikal das Material, das in einem akustischen Medium zur Verfügung steht, zur Grundlage der Entwicklung von neuen ästhetischen Formen zu machen versucht. Und ist dabei immer weiter in die Musik rübergerutscht, aber mit tollen Verdiensten: Kagel, John Cage, da sind schon großartige Produktionen entstanden. Was er als »akustische Kunst« bezeichnete, wollte ja auch etwas ganz anderes als Hörspiel sein. Ich bin dagegen immer dem Wort treu geblieben, habe das literarische Grundverständnis nie aufgegeben.
K.WEST: Welches waren damals »ihre« Autoren?
KAMPS: Ror Wolf, Jürgen Becker, Rolf Dieter Brinkmann, Urs Widmer, Hubert Wiedfeld, Wolf Wondratschek, Ludwig Harig, um nur einige zu nennen. Wondratschek zum Beispiel, um auch so etwas einmal zu erzählen, hat eine Zeit lang um ein Stück gekämpft, das am Ende nicht zustande kam. Er wollte mit ein paar Mitstreitern für eine Woche ein Studio zur Verfügung gestellt bekommen, mit Kühlschrank, Essen, Betten usw., und er wollte in dieses Studio eingeschlossen werden. Das ging natürlich nicht. Denn die 60er waren auch schon eine Zeit der Drogen. Ein anderes Beispiel: »Staatsbegräbnis« von Ludwig Harig von 1969. Harig war einer der ersten, die mit O-Ton arbeiteten, hier benutzte er den veröffentlichten O-Ton. Er nahm die Tonaufnahmen von den Begräbnisfeierlichkeiten für Konrad Adenauer, alles, was über die Sender gegangen war, kürzte es radikal und setzte es neu zusammen. Eigentlich ging es Harig mit diesem Selbstbild der Bundesrepublik gar nicht so sehr um irgendetwas Kritisches, er spielte mit dem Material. Aber viele fanden das despektierlich, und erst mal wurden Nachspielungen verhindert. Es gab übrigens damals hinsichtlich des O-Tons einen fast ideologischen Kampf innerhalb der Hörspielabteilung es existierte nämlich die Meinung, dass O-Ton eine Möglichkeit sei, den unmündigen bzw. nicht zum öffentlichen Wort zugelassenen Bürger endlich zu eben diesem Wort kommen zu lassen.
K.WEST: Die 60er Jahre waren auch die Zeit des Beginns der Stereofonie. Welchen Einfluss nahm diese technische Entwicklung auf die hörspielästhetische?
KAMPS: Das Hörspiel musste bald erleben, dass es eine vorstellbare Szene durch die Raumillusion plötzlich beinah real »zeigen« konnte, ohne dass sie zu sehen war. Und zog daraus den Schluss, dass es besser wäre, das Gegenteil zu tun: die Geschichte zu zerstören, möglichst nichts Szenisches zu machen. Das führte schnell zu Collage-Formen, und die Stimme konnte jetzt Erzähler oder Spielfigur, aber auch alles mögliche andere sein. Es entstanden Höreindrücke, deren Herkunft nicht mehr ohne weiteres zu fixieren war. In Köln ist Stereo übrigens mit Verspätung eingeführt worden, die technische Direktion hielt erst mal nicht viel davon.
K.WEST: Und heute?
KAMPS: Die Zeit der Experimente scheint vorbei, was damals erarbeitet wurde, machen die heutigen Hörspiele sich ganz selbstverständlich und unverkrampft zunutze. Ich selbst wünschte mir allerdings schon, dass einem noch mal jemand mit neuen Mitteln die Ohren ganz weit aufreißt. Aber ich sehe nicht, dass jetzt die Zeit dafür ist. Ich habe gegen spätere Entwicklungen auch immer die Fahne des Originalhörspiels – ein blödes Wort – hochgehalten: Die Bedenkenlosigkeit, mit der man das Fernsehen nachmacht, einfach existierende literarische Stoffe nimmt und sie bearbeitet, die finde ich etwas bedauerlich. Da sind auch Chancen vergeben worden, wo man hätte Anreize an Autoren ausgeben müssen, nämlich bestehende Ansätze in ihrem Werk fürs akustische Medium nutzbar zu machen. Zurzeit sehe ich allerdings, was den PR-Wert des Hörspiels angeht, eine zunehmende positive Haltung gegenüber dieser künstlerischen Darstellungsmöglichkeit, wohl auch bedingt durch den Boom des Hörbuchs. Dessen Wurzeln reichen nicht zuletzt zurück bis in die Hörspielarbeit des WDR ganz am Anfang der 90er Jahre.
Johann Kamps, geboren 1938 in Eschweiler bei Aachen, war von 1969 bis 2000 Hörspiel-Dramaturg beim WDR. Zu seinem 50. Jubiläum strahlt der Sender seine wichtigsten Hörspiele noch einmal aus; wir stellen einige vor:
Kriegskunst
Hier ist es schön. Die Vögelchen zwitschern, die Sonne scheint, die Wiesen leuchten und die Frauen seufzen. Dabei herrscht Krieg in Jean Thibaudeaus »Schlachtgemälde«, in den die Männer mit musikalischem Glanz und Gloria ziehen. Im Hintergrund donnert und grollt es, das Verfahren aber, mit dem das Hörspiel aus dem Jahr 1966 das Bild des Grauens zusammensetzt, ist ein hoch literarisches. In kurzen Monologen wird die Schlacht aus verschiedenen Perspektiven bruchstückhaft in den Blick genommen. Etappe für Etappe nimmt der Kampf seinen Lauf, ohne dass sich daraus ein Gesamttableau zusammensetzen ließe. So nahe ist der Hörer am Geschehen dran und zugleich doch auch so fern. Denn provozierend ist »Schlachtgemälde« auch heute noch durch die mal säuselnd lockende, dann wieder schneidige Überästhetisierung, die Thibaudeau an jenen Punkt führt, an dem die pathossatte Rede vom Krieg als Verherrlichung kenntlich wird. | akl
1. Februar 2006, 22:00 Uhr, WDR 3
Moralcollagen
Gerhard Rühm (geb. 1930) war als Dichter stets ein Feind des Fiktionalen. An seine Stelle tritt in den Hörspielen »Wintermärchen« (1976; Karl-Sczuka-Preis) und »Wald, ein deutsches Requiem« (1983; Hörspielpreis der Kriegsblinden) die Alltagsrealität, verkörpert v.a. durch akustische Zeitungsausrisse. Analog zu bildnerischen Verfahren jener Zeit werden die Realpartikel anschließend »übermalt«: mit Klaviermusik (von Rühm komponiert und gespielt), chorischen Sentenzen, Alltagsklängen (Autogeräusche, Vogelgezwitscher), Gedichtzeilenfetzen. Eine Stimmung von Betroffenheit entsteht: Im ersten Fall mit dem Schicksal eines Mordopfers, dem keiner half. Im zweiten Fall mit dem angeblich deutschen Wald. – Ein Mann wird überfallen, schleppt sich an den Straßenrand, kein Autofahrer hält. Eine Stimme vermeldet dies im Rezitationston, ein Klavier ahmt Schubert nach, Scheibenwischer nölen. Und Heine träumt (in seinem »Wintermärchen«) vom »altertümlichen Köllen«. So wird der Kriminalfall zum deutschen Exempel. Noch puristischer, in der Aussage blass propagandistisch wirkt das Wald-Requiem, das aus wenig mehr als der Kontrastierung vogelzwitschernder Forstseligkeit mit Waldsterbensschlagzeilen besteht, untermalt mit Cello-Moll und endend im kakophonen Blabla der abgefragten Meinung der Straße.
Beide Hörspiele 1. März, 22:00 Uhr, WDR 3
Hit-Hit
Erfolg im Pop-Geschäft basiert auf Können; nur längst weniger auf musikalischem, denn auf dem eines guten Brandings. Auch wer nichts kann, kann einen Nummer-Eins-Hit landen, wenn er nur das Hörspiel »Top Hit leicht gemacht« hört und als Gebrauchsanweisung befolgt. Ein arbeitsloser, musikalischer völlig ahnungsloser junger Schreiner tut’s: Denkt sich einen Lala-blöden Refrain aus, leiht sich Geld, mietet ein Studio, bildet vor allem in seinem Kopf den Willen zum Erfolg. Und ist am Ende ein kleiner Superstar des Dande Floor. Paul Plampers selbst hoch musikalisches, den Betrieb kenntnisreich zur Kenntlichkeit entstellendes Hörspiel zeigt das Medium im Zenith seiner Möglichkeiten: Peu à peu bekommen wir akustisch vorgeführt, wie aus Nichts ein Pop-Song entsteht. | ude
21. März, 21:05 Uhr, WDR 5
Sprachtatbestände
»Pfählen, kneifen, lähmen. Verhungern, verschleppen, verkrüppeln.« Bellend betet eine Stimme die Litanei der Aggression. »Leiber aufreißen. Ohne Sakrament in die Ewigkeit schicken. Erschlagen und schlagen und schlagen und schlagen. Entvölkern!« Die Perlen in diesem Rosenkranz der Vernichtung stammen aus dem »Kurzgefassten Bericht von der Verwüstung westindischer Länder« des spanischen Geistlichen Bartolomé de las Casas von 1542. Da hat Hernán Cortés sein Werk schon fast erledigt: Der Vorspann zu Mauricio Kagels Hörspiel »Die Umkehrung Amerikas« beziffert die Zahl der in der Conquista umgebrachten Ur-Mexikaner mit 19 Millionen. Die Realität ist Grauen, vor ihr zerbirst die Sprache in Verbenstammeln. Zumal das Grauen selbst Sprache werden will: Dem Vokabular des Sadismus folgt die Dressur der Überlebenden mit der Peitsche des Konquistadorenalphabets: »A – U. Au! Unhold«. Kagels Hörspiel von 1977 findet Worte für den europäischen Ur-Genozid, indem es die Sprache kapitulieren lässt. Ihrer Zerschmetterung folgt ihre Umkehrung: Lange spielt das 45-minütige Hörstück mit der Unheimlichkeit rückwärts laufender Sequenzen. Ein Dokument des »Neuen Hörspiels« (ausgezeichnet mit dem renommierten Prix Italia), das noch heute verstört. | ude
5. April, 22:00 Uhr, WDR 3