Erinnerungen von Helga Meister
Am 14. April 1986 steuerte ein kleines Motorboot namens Sueno die Helgoländer Bucht an. Sueno heißt Schlaf, Traum. Drei Bronzegefäße mit der Asche von Joseph Beuys, der am 23. Januar gestorben war, wurden der Nordsee übergeben. Er muss seinen Tod geahnt haben, denn wenige Wochen zuvor entstanden zwei Werke, die wie ein Abgesang wirken. Das eine, »Scala Napoletana« (neapolitanische Leiter), fand er beim Gang zum Weihnachtsgottesdienst 1985 in einem Gartenrestaurant – ein nichtiges Ding, alltäglich wie vieles, was er zu Kunst verarbeitete. Er band graue Bleikugeln als Balance an die frei stehende Leiter, so dass sie zwischen Erde und Himmel vermittelt. Letztes Symbol für die frühmagischen Vorstellungen und die christliche Mystik, die ihn erfüllten und die er nach außen trug.
Axel Hinrich Murken, Medizinhistoriker, Philologe und Kunstsammler aus Aachen, begriff als einer der ersten, dass und wie Beuys ein komplexes medizinisches und christliches Denken vom Menschen in Kunst transponierte, dass er sich früh in der Rolle des Heilers, Schamanen und Künders sah. Diesen Aspekt greift einer der zwei Teile der Hommage zum 20. Todestag im Düsseldorfer museum kunst palast auf und stützt sich dabei auf Murkens Kollektion und Publikation. 1921 in Krefeld geboren und am Niederrhein aufgewachsen, wollte Beuys ursprünglich Kinderarzt werden, hörte während seiner Soldatenzeit an der Ostfront naturwissenschaftliche und medizinische Vorlesungen an der Universität Posen. Beuys sah nicht nur in jedem Menschen den Künstler, sondern auch einen Arzt. Auf heiligende und kreative Kräfte vertrauend, benutzte er Materialien wie Fett und Filz, aber auch die Sensibilität des dünnen Bleistifts und der spitzen Tuschfeder. Die Kunstsammlung NRW besitzt mit »Palazzo Regale« das letzte gewichtige Spätwerk von Beuys. Einen Monat vor seinem Tod hatte er es im Museo di Capodimonte in Neapel ausgestellt. In den Vitrinen liegen der mit himmelblauer Seide gefütterte Luchsmantel und die verlockend schön schimmernde Meeresschnecke. Aus ihr soll der Ton des Nebelhorns kommen, das weit über das Meer schallt. An den Wänden hängen Messingtafeln, die Beuys mit Dammarfirnis und Goldstaub versah, so dass ihr Glanz gedimmt ist. Wer in diese Spiegel schaut, ahnt mehr, als er sieht. Die Umgebung verschwimmt, man wird auf sich selbst zurückgeworfen. In diesem entrückenden Werk kommt die Kunst zur reinen, entgrenzenden Anschauung. Der Rucksack, den der große Wanderer abgelegt hat, ruht nun neben den mumifizierten Lebensmitteln, die an Grabbeigaben erinnern. Der magische Raum wirkt wie das Vermächtnis eines Visionärs. Der Visionär war aber auch urig, ausgelassen, nicht zimperlich. Bei der ersten Begegnung war ich erstaunt von seiner Offenheit, die keine Arroganz kannte. Selbstverständlich gab er Auskunft, machte Mut, die eigenen Gedanken zu formulieren, nahm sein Gegenüber schlicht und einfach ernst. Er besaß eine Begabung, selbst komplexe Zusammenhänge anschaulich zu machen. Völlig alogische Dinge vertrat er absolut selbstsicher. Es hatte seine eigene Logik.
Und er war sich vor nichts bange. Als ihn der Fotograf Gianfranco Gorgoni, dessen Aktions-Fotos sowie Bilder von Kollegen den zweiten Teil der Hommage bestücken, zu einer Ausstellung nach Eindhoven begleitet hatte, revanchierte sich Beuys mit einer speziellen Performance. Er tauchte in die Sümpfe am Niederrhein ein, als sei er ein Wassertier, das die Urkräfte der Natur sichtbar macht, und kam dann triefend nass in seiner eigenen Ausstellung an.
Wer im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt die kolossale Installation »Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch« betrachtet, findet auf dem Gang zu der Beuys-Arbeit einen kleinen schwarzen Knopf Drückt man ihn, ertönt jenes unnachahmlich sarkastisch-witzige, bauernschlaue »jaja-neenee« in Endlosschleife. Seine Heimat- und Grundmelodie. Nach der hatte er vermutlich schon 1965 den toten Hasen bezirzt, als er bei seiner ersten Einzelausstellung in der Galerie Schmela eine Honigmaske trug und dem leblosen Vierbeiner die Kunst erklärte. Beuys konnte halt in jeder Situation Haken schlagen. Und »sieghaft« lachen, wie es der ehemalige Mönchengladbacher Museumschef Johannes Cladders nannte – gerade bei vermeintlichen Niederlagen. Er zeigte die Zähne und setzte sein breites Grinsen auf, als er im langen Mantel den Grafenberger Wald fegte oder durch das Polizeispalier lief, nachdem er das Sekretariat der Düsseldorfer Kunstakademie besetzt gehalten hatte und amtlich entfernt wurde. Er konnte sich kaputt lachen, weil die Stadt Düsseldorf ihm seine Holzpuppe für die Rolandschule vor die Tür knallte, die er daraufhin postwendend in die Sammlung Ströher nach Darmstadt verkaufte.
Von 1961 nicht nur bis zu seinem Rausschmiss im Jahr 1972, sondern bis zu seinem Tod mit nicht einmal 65 Jahren lehrte er die Generation der Immendorff, Tadeusz, Knoebel, Ruthenbeck und Stüttgen die Freiheit der Kunst und schlug Bögen von der Schöpferkraft des Menschen zur demokratischen Verfassung im Staat.
Die Fotos, die von seinen wundersamen Thesen für eine bessere Welt, eine neue Heilslehre, eine andere Wirtschaftsordnung und eine homöopathische Medizin künden, zeigen die Menschenmassen, die er um sich scharte. Der Raum 3 der Kunstakademie Düsseldorf war damals eine Schaltstelle des Geistes. Heute ist er meistens verrammelt und dient als Postablage. Die Zeiten haben sich geändert. Beuys bündelte nahezu alle Positionen und Probleme der Moderne. Tat es auf zupackende Weise, trotz nachlassender Kräfte. Hundert Tage hielt er es auf der documenta 7 in Kassel aus, führte Ringgespräche, stellte Bildungs-, Rechts- und Wirtschaftsbegriffe vor. Sah manchmal elend und eingefallen aus, aber wurde gleichsam von seinem Charisma über körperliche Schwächen hinweg getragen. Anatol, Polizeihauptmann und Ex-Student, rekapituliert: »Er konnte seine ganze Persönlichkeit für seine Idee einsetzen.« Bis zum Exzess, fast bis zum Wahnsinn. Wie er mit dem Kojoten in der berühmten Aktion »I like America und America likes me« das Lager teilte und eine animistische Einheit mit der Kreatur vorlebte. Anatol: »Er wusste viel über die Tiere und ihre Kräfte. Ein Schamane, der in imaginären Räumen agierte, die von der Naturwissenschaft nicht erfasst werden. Er war eine seltene Erscheinung. Ein Mensch, der Menschenkräfte erwecken konnte.« Ideale Figur auch für die Medien. Wo er ging und stand, hatte er Journalisten, Fotografen, Kameramänner zur Seite. Zahllose Boote setzten mit ihm ins Rheinwasser, um ihm und der Seniorenmannschaft des Kanuclubs Jan Wellem bei seiner Fahrt im flachen Einbaum nahe zu sein. Ob es die Gründungsversammlung der Deutschen Studenten Partei auf der Wiese vor der Akademie war oder die Ausrufung des Vereins zur Förderung einer Freien Internationalen Hochschule für Kreativität und interdisziplinäre Forschung, Beuys war sich der Zuschauer sicher.
Der Niederrheiner, der in Kleve aufwuchs, die Schule besuchte, von 1957 bis 1964 sein erstes Atelier besaß, liebte die weite, bäuerlich strukturierte Landschaft, fand in ihr als jemand, der am liebsten auf Gralssuche gegangen wäre, neben Heilkräutern auch die Sagenwelt. Sprach den breiten Dialekt, den man dort noch heute hört. Am Niederrhein wurde er zu dem, was Anatol Herzfeld einen »Romantiker« nennt.
Als Beuys 1943 auf der Krim mit seiner Stuka im Schneesturm abstürzte, sollen es nomadisierende Tataren gewesen sein, die ihn mit tierischem Fett salbten, in Filz wickelten und damit jene Wärme speicherten, die er später auf seine Werke übertrug. Dem »Zauberer«, so Guido de Werd, wird in dessen Museum Kurhaus Kleve übrigens das erste Atelier wieder eingerichtet. //
museum kunst palast, bis 19. März 2006, 11. März Beuys-Symposion über die Wirkung seiner Lehre und Fortführung seiner gesellschaftspolitischen Ideen; Tel 0211 / 899 2460, www.museum-kunst-palast.de