Als Johann Kresnik kam, mussten sie gehen. Ein Glücksfall – im Nachhinein betrachtet. Der neue Intendant am Theater Bonn, Klaus Weise, wechselte 2003 das »Choreographische Theater« des Pavel Mikulastik gegen das von Johann Kresnik aus. Rafaële Giovanola, Mikulastiks Muse, erhielt erst eine Abfindung, dann Arbeitslosengeld. »Es war schon traurig«, sagt die zierliche Künstlerin heute, »aber es war auch eine Chance«.
Während die Tänzerin, unvergessen als zarte Kindfrau Gelsomina in Mikulastiks Fellini-Adaption »La Strada«, das sagt, wirkt sie sehr aufgeräumt. »Wir waren reif für die Unabhängigkeit«, stellt Rafaële Giovanola rückblickend fest. »Es ist ja auch eine Frage des Alters. Irgendwann will man seine eigenen Sachen machen.« Noch bevor sich die unfreiwillige Chance ergab, hatten diese Sachen bereits einen Namen: »Cocoondance«. Diese kleine Company gründeten Giovanola, die acht Jahre bei William Forsythe beim Ballett Frankfurt war, und ihr Mann, der Dramaturg Rainald Endraß, bereits im Jahr 2000 aus einer Urlaubslaune heraus mit Bonner Kollegen. »Jigaboo«, ihre erste Produktion, landete im Off-Programm des Theaterfestivals von Avignon prompt einen Überraschungserfolg. Katapultiert in die freie Szene, bekannten sich die Schweizerin und der Schwabe zur »Arbeit ohne Kompromisse«. Sie genossen die »Therapie vom Stadttheater«, wie Rainald Endraß es formuliert. Drei Jahre Zeit gaben sie Cocoondance. »Hätten wir nicht davon leben können, wären wir vernünftig genug gewesen, uns irgendwo zu bewerben«, erinnert sich Rafaële Giovanola. »Schließlich wollten wir nicht verhungern. Wir haben zwei Kinder.«
Freiheit gibt Kraft. Cocoondance stellt im Mai die zwölfte Produktion vor – keine war ein Flop. Auf nationale Plattformen wie »Theaterzwang« ebenso geladen wie zu internationalen Festivals, sind die Bonner längst mehr als eine regionale Größe der freien Szene: Chengdu (China), Dance Week Festival Zagreb, Avignon Off, Edinburgh Festival Fringe, Bayreuther Festival junger Künstler. Im Oktober geht es nach Südamerika.
Was Cocoondance von anderen freien Gruppen unterscheidet, ist die Professionalität. Dahinter stecken gleich zwei kluge Köpfe mit zwei Jahrzehnten Bühnenerfahrung. Rafaële Giovanola ahnte schon während ihres Studiums bei Marika Besobrasova in Monte Carlo, später bei William Forsythe und dann bei Pavel Mikulastik, was Idealismus bedeutet: »Forsythe war eine unermüdliche Suche. Wir wussten nie, wohin es ging, aber wir wussten, dass es gut wird. Er hat uns gezeigt, dass es immer einen Weg gibt«. Der Amerikaner habe sie weit über ihre Grenzen hinaus gepuscht. Nicht nur körperlich, auch darstellerisch. Beim Prager Tanztheatermacher Mikulastik, dessen politische Ambitionen sie schätzte, guckte sie sich das Theatralische ab. »Man sammelt alles und mischt es zu etwas Neuem«, so Giovanola, die sich mehr und mehr der Choreografie zuwendet. Diesem »Neuen« gibt der konzeptionelle Denker Endraß intellektuelle Tiefe.
Cocoondance-Produktionen verhandeln die Rolle des Individuums in der Gesellschaft – mit warmem, ironischem Blick auf seine Befindlichkeiten. »I’ll be your mirror« (2003) ist ein buchstäblich reflektierter Tanzdialog zwischen einer Diva und ihrem (lebendigen) Spiegelbild, der den Menschen hinter der Maske bloßlegt. »Fool for you« (2005) widmet sich den Narren der Neuzeit, und der Bestseller »Lovers and other strangers« (2005) thematisiert die Angst vor dem Anderen im Geschlechterkampf bis hin zu den Kulturkonflikten unserer Zeit. »Wir machen Theater, um ein Risiko einzugehen, um Utopien zu erzählen. Theater ist immer die Überprüfung einer Theorie als ästhetische Praxis«, formuliert Endraß sein Selbstverständnis als Theatermacher. Ästhetisch wandeln die Cocoondancer zwischen poetischem Bilderreigen und Abstraktion, klassischem Ballett, zeitgenössischem Tanz und Improvisation.
Format verleihen ihrer Kunst auch namhafte Kollegen: Die Profis arbeiten nur mit Profis – nicht nur auf der Bühne. Als Coach engagierten sie den Sasha Waltz-Tänzer Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola, den Brook- Schauspieler William Nadylam oder, für die neue Produktion »Real-Lies-cosìfantutte «, den britischen Extrem-Performer Nigel Charnock. Zudem leistet man sich den Lichtdesigner Marc Brodeur, und selbst die Musik kommt nicht aus der Konserve, sondern wird bei Jörg Ritzenhoff in Auftrag gegeben. Der Zufall spielte dem tanzenden Kokon einen festen Produktionsort zu. Als die Stadt den alten Ballsaal aus dem 19. Jahrhundert in Bonn-Endenich als freies Theaterhaus beleben – und fördern – wollte, nahmen Giovanola/Endraß das Angebot erfreut an. Gemeinsam mit der Theatergruppe »fringe ensemble« leiten und bespielen sie seit Herbst 2004 das Haus.
So professionell die Macher, so improvisiert die Arbeitsbedingungen. Noch fehlt es an einem Proberaum. Cocoondance mietet sich von Produktion zu Produktion irgendwo ein. Und Rainald Endraß schleppt für jede Aufführung den Tanzteppich in den Ballsaal. Er putzt ihn auch nach der Vorstellung. Freiheit hat eben ihren Preis.
»Editions of you« am 11. Mai im Rahmen von »Tanz NRW 07« in der Fabrik Heeder, Krefeld; Uraufführung von »Real-Liescosìfantutte « am 16. Mai im Theater im Ballsaal, Bonn; »Lovers and other Strangers« am 29., 30., 31. Mai 2007 und 1., 2., 3. Juni bei den Ruhrfestspielen.