//__Es ist kurz vor 18 Uhr, Jean-Claude Bourgueil zieht die weiße Kochjacke an und knöpft sie zu. So wie fast jeden Abend seit beinahe 20 Jahren in seinem weltbekannten Restaurant »Im Schiffchen«. Die Jahre gar nicht mitgerechnet, seit er in seiner französischen Heimat, dem Loire-Tal, mit gerade mal 15 Jahren in die Kochlehre ging: »damals ungeheuer stolz, eine Kochjacke tragen zu dürfen; auch wenn meine Hauptbeschäftigung anfangs nur aus Putzen, Polieren, Spülen, Fegen bestand.« Arbeitsjahre, die sich zu fast einem halben Jahrhundert addieren würden. Jahre zwischen Herden und Hackbrettern, glühenden Kasserollen und brodelnden Fonds, wo sich die Brigade in komplizierten Zeitabläufen ordnet, Chirurgen an Schnepfen- und Milchlammleibern, Schwerstarbeiter des Filigranen. Ein Beruf, von dem viele sagen, er sei einer der härtesten überhaupt, jedenfalls wenn man sich in den olympischen Höhen der Elite halten will.
Und dann die unermüdlichen Experimente mit Aromen und Texturen, Emulsionen, Gemengen und Gemischen. Ein Mühen um die Mysterien des Kulinarischen, das Bourgueil, wie er sagt, ungefähr mit den Emotionen eines Verliebten betreibe, der um eine schöne Frau wirbt. Ewiges Ausprobieren, von dem nur ganz Weniges zu kulinarischen Klassikern der Küchenmoderne wird. Wie etwa Bourgueils legendärer bretonischer Hummer, gedämpft mit Kamillenblüten. Oder sein Kombinations-Coup von Sellerie-Velouté mit einem Schachbrett aus Talern von rohen bretonischen Jakobsmuscheln und PérigordTrüffeln, nicht gegart, sondern nur eben etwas unterm Salamander erwärmt, mit nichts als ein wenig Olivenöl. Intensive, klare Aromen. Markant erdig-nussige, ätherisch-duftige Eigenwilligkeit. Typisch für den Cuisinier: die Themen Erde und Meer zu etwas Größerem zu vereinen und sie zugleich in ihrer Polarität bestehen zu lassen. Zum Raffinement gesteigerte Einfachheit. Jenseits von Teller-Akrobatik, hochgezüchtetem Geschnörkel, Chichi und Effekt – Attribute, die dem Maître auch außerhalb der Küche herzlich zuwider sind.
Bourgueils Köche, mehr als ein Dutzend sind es, haben schon mit der Arbeit angefangen, die ersten Gäste steigen die Treppe hinauf zum höheren Tafelvergnügen im »Schiffchen«, in der ersten Etage des schönen Barock-Backsteinhauses in Düsseldorf-Kaiserswerth, wenige Schritte vom Rhein entfernt. Auch »Jean Claudes Bistro« im Erdgeschoss füllt sich langsam mit internationalem Publikum.
Der Sterne-Koch ist etwas heiser heute, was ihn nicht hindert, mit gewohnter Lebhaftigkeit und seinem französischen Akzent über die Dinge des Lebens zu raisonieren. Ein so begeisterter wie skeptischer Zeitgenosse. Mit seiner bekannten, bisweilen brisanten Meinungsfreudigkeit, spontan, ungewollt provokant, in fast kindlicher Freiheit, unbekümmert um Opportunismus und Kalkül. Ob es sich um Politik handelt oder um die öffentliche Überlegung, ob weibliche Köche womöglich weniger talentiert seien als Männer, oder um seine Kritik am zunehmend aufweichenden Niveau bestimmter Gastro-Kritiker, worüber seine Kollegen bestenfalls intern munkeln.
»Lassen Sie uns nicht über den Michelin reden«, sagt er gleich am Anfang. Um dann doch genau das nachhaltig zu tun. Was verständlich ist, wenn man sich erinnert, welches Aufsehen es erregte, als Ende letzten Jahres der Michelin seine Wertungen für 2007 bekannt gab – und Bourgueil den dritten Stern aberkannte. Ein Eklat. Bis dahin hatte sein Haus seit 1987, also 19 Jahre in Folge, seine drei Sterne halten können. Absoluter Rekord, das hat vor ihm in Deutschland niemand geschafft.
Auch wenn er betont, dass er für seine Gäste kocht und nicht für die Kritiker – »auch wenn mir das keiner glaubt, es ist mir egal, das mit dem verlorenen Stern« –, so kann man sich nur schwer daran gewöhnen, Bourgueil nun als Zwei-Sterne-Koch zu bezeichnen. Wobei, nebenbei bemerkt, der Michelin pikanterweise zugleich mit Aberkennung der dritten »Schiffchen«-Auszeichnung für das Bistro den ersten Macaron vergab. Jedenfalls bleibt der Entzug der Höchstnote bitter, ausgerechnet kurz vor Beginn eines Jahres, in dem es für Bourgueil eigentlich drei Jubiläen gleichzeitig hätte geben können. 2007 hätte er nicht nur die Rekordleistung von 20 »Drei Sterne«-Jahren feiern können; es ist auch das Datum des 30-jährigen Bestehens des »Schiffchens« sowie seines eigenen 60. Geburtstages.
Am 1. Mai 1947 wurde Bourgueil in St. Maure-de-Touraine geboren, im Dorf der berühmten Ziegenkäsespezialität, im Tal der Könige und der Weine. Der Knirps zog frühmorgens mit dem Großvater los; sie sammelten Wildkräuter, Pilze, Schnecken, Frösche, die daheim im Kochtopf landeten. Eine Kindheitserinnerung, der er ein Gericht gewidmet hat, das längst ein Klassiker ist: »Brachfeldfrüchte in leichtem Knoblauch-Sud« mit Schnecken und Froschschenkel. Als er die Kreation erstmals servierte, war Knoblauchiges in der deutschen Haute Cuisine noch verpönt. Auch das ist Bourgueil: Mit seinem Küchenstil einerseits in den französischen Traditionen verwurzelt und ein bewusst weltoffener und unbedingter Zeitgenosse sein, der, unbekümmert um kurzlebige Trends, seiner Zeit oft voraus ist. Mit Kreationen wie »Paris-Tokyo« etwa schuf er schon den Brückenschlag zwischen den Welten, als Sushi- und Thai-Trend kaum begannen.
In seinem Zweitrestaurant, dem »Bistro«, kocht er sich wie ein Weltmeister durch die reizvollsten Geschmacksregionen der Welt: vom Rheinland über Frankreich bis Japan, von Thailand über Mexiko bis zu Maghreb und Orient. Das hat nichts zu tun mit der äußerlichen Crossover-Küche, wie man sie anderswo oft antrifft; es besitzt innere Logik. Wobei die Lust am Spontanen, Unabgesicherten seiner technisch perfekten, in Produktqualität auch im Bistro erstklassigen Küche zugleich ein Moment des Unberechenbaren und Persönlichen mitgibt (was ihn bei manchen Kritikern umstritten sein lässt), wo die Spitzengastronomie doch letztlich ein konservatives Gewerbe ist. Es ist aber aus Bourgueils Leben nicht wegzudenken, es beseelt – auch als Form der Freiheit – alle seine Unternehmungen. Kurz, die Wertschätzung des Persönlichen gegen das Unpersönliche spielt in seinem Denken wahrscheinlich die zentrale Rolle.
Nicht selten taucht es auch als Humor auf. Etwa bei der Dessert-Zugabe »Prinzenrolle und Mäusespeck«, einer Neuerfindung, so wie »Bams-Tagada-Colorado«, gewidmet den Bananen-Erdbeer-Favoriten, die Bourgueils Kinder beim Segeln aus der »Colorado«-HariboTüte fischten.
Wie Bourgueil da sitzt, die kräftigen Hände auf der Tischplatte, die Finger etwas gespreizt, überlegt man auf einmal, ob nicht die berühmte Picasso-Fotografie von Robert Doisneau ein gutes Bild abgäbe für Bourgueils Humor und Persönlichkeit. Doisneaus Foto von 1952, das Picasso vor einem Teller sitzend zeigt: Rechts und links vom Teller hat er nah an der Tischkante vor sich Miniatur-Baguettes wie Finger angeordnet, die den kuriosen Eindruck erwecken, es handele sich um seine Hände. Bei all dem Kokus blickt Picasso mit unschuldigstem Ernst in die Ferne.
Vor drei Jahren erhielt Bourgueil aus der Hand von Paul Bocuse den Orden der Ehrenlegion. Für seine Verdienste als »kulinarischer Botschafter« Frankreichs in Deutschland. Ebenso wichtig ist aber der Aspekt, dass der Maître auch ein französischer Botschafter des kulinarischen Deutschlands ist. So wie er große Sympathien hat für Heinrich Heine, »den Genießer, den Spötter, den französischen Deutschen«, kann man Bourgueil einen deutschen Franzosen nennen. Wenn er sagt, »wir dürfen unsere Wurzeln nicht vergessen«, meint er mit »wir«: Wir Deutsche. Im September wird von ihm, in Zusammenarbeit mit dem Kölner Fotografen Thomas Ruhl, ein Text-Bild-Band erscheinen, der in der Kochbuch-Geschichte einzigartig sein dürfte: »Typisch Deutsch« (Verlag Fackelträger), das Buch eines französischen Starkochs über regionale deutsche Küchenklassiker und Spezialitäten. Neu interpretiert, wiederentdeckt, wiederbelebt.
Es gehe ihm dabei um das gastronomische Gedächtnis einer Nation, um kulinarische Identität. Das vermisst er in Deutschland, und will es stärken. Typisch deutsch findet er aber auch, »dass so ein Buch kein deutscher Koch machen wollte, dass alle immer noch Richtung Frankreich und in andere Länder äugen, Italien, Spanien, meinetwegen Honolulu. Nach dem Motto: da ist alles besser, schöner.« Überhaupt meint er, »dass es insgesamt keine Identifizierung mit dem eigenen Land gibt«, keine Neugier auf die eigenen Traditionen, keine Wertschätzung. Das habe ihn »immer befremdet: traurig, eigentlich.«
Jetzt jedenfalls geht er »auf die Barrikaden« für seine Heimat, mit einem Buch als »persönliche Liebeserklärung an mein Deutschland«. Auch da ist er Pionier. Die Generation der jungen Köche folgt bereits seiner Orientierung, seinem Projekt der Aufwertung und Modernisierung der deutschen Regionalküchen, das der Starkoch schon vor vielen Jahren begonnen hatte, in seinem einstigen Zweitrestaurant »Aalschokker«, eröffnet 1986, Vorgänger des heutigen Bistros. Da gab es, ähnlich den mehr als 80 Rezepten im neuen Buch, Dinge wie Rheinischer Sauerbraten, Schwarzwälder Kirschtorte, für die Gegenwart variiert, oder »Himmel und Erde« von der Gänseleber. So offeriert das Buch auch Strudel vom Nordsee-Kabeljau, Aalschmalz mit Zwiebeln, Herrentoast nach Walterspiel, Pillekuchen & Bettelmann, Eisauflauf mit Blutwurzlikör.
Auch jenseits des Rezeptteils hat er sich als Autor viel Arbeit gemacht, »interessante, gute Dinge« entdeckt, erforscht, die Deutschland besitzt. In seinem Lieblingstext über Glücksschweine, übers Marzipanschwein, auch typisch deutsch, wollte er das ganze mythische und romantische Deutschland mit unterbringen, »um es dem Land der Ordnung, Disziplin und Wissenschaft gegenüberzustellen«. Samt Erlkönig, Siegfried, Neuschwanstein; zudem wollte er den Adventskalender zwischen den Buchseiten haben, die Weihnachtspyramide, die Tradition der deutschen Mahlzeiten, Jagdkultur, Waldpflege und das Bewusstsein für den Naturschutz. »Damit gehen die Deutschen viel besser um als die Südländer.« Der Erscheinungstermin wurde auf den Herbst verschoben, nicht alle Vorschläge kamen gut an, manchmal meinte er auch von Verlagsseite zu spüren, »dass vieles typisch Deutsche, was eigentlich liebenswert ist, misstrauisch betrachtet, abgewertet, marginalisiert« werde. Dann macht er eine kleine Pause. Gut, er gibt zu, dass sein »Glücksschweintext«, der so nicht erscheinen wird, vielleicht etwas diffus geraten sei. Die eigene Stimme müsse halt durchscheinen, das ist ihm wichtig.
Mittlerweile braucht die Brigade den Chef dringend in der Küche. Der lugt um die Ecke, wo ein Koch gerade die Hummer aus dem Kühlhaus geholt hat. Jetzt kriechen und fühlern sie benommen auf der Arbeitsplatte herum. Bourgueil macht überraschend kehrt, kommt noch einmal zurück. »Früher habe ich so einen lebenden Hummer einfach ins kochende Wasser geschmissen und mir nichts dabei gedacht. Heute habe ich ein Problem damit. Ein Problem des Alters. Es ist unlogisch, aber man wird irgendwie sensibler.« Dann lacht er verschmitzt und schaut sofort wieder ernst, wie Doisneaus Picasso: »Heutzutage sage ich dem Koch: ›Mach Du den Hummer fertig‹ und schleiche mich schnellstens davon.«