Wer wollte dieser Ungeheuerlichkeit gewachsen sein? Man bekommt sie nicht zu sehen. Hört nur von ihr, aus atemlosem Mund, als Botenbericht, als Schreckenskunde. So wie uns die Alten sungen, in der antiken Tragödie, vom Untergang der Perser oder dem Haus der Atriden. Kleists Trauerspiel »Penthesilea« lässt uns nicht Zeuge der blutigen Tat werden, mit der die Amazone den Helden Achilles erschlägt, sich in ihm verbeißt, ihn in kannibalisch irrer Tat abschlachtet, weil der Liebe sich nicht anders als durch Mord ihres Lust- und Hassobjektes erwehren lässt. Deshalb reimen sich bei Kleist »Küsse« auf »Bisse«. Und wie als Gegenrede zu Wagners »Tristan« sinkt auch hier herab die Nacht der Liebe, aber als Umnachtung von Penthesileas Geist.
Wie wollte man dem gewachsen sein? In den Kammerspielen des Bochumer Schauspielhauses steht im kahlen Bühnenraum (Kathrin Schlecht) nur ein Tisch mit ein paar Klappstühlen. Die Griechen vor Troja und das Heer der Amazonen halten Kriegsrat. Konferenz der unheroischen Helden: Vier gegen Sechs, vier Männer in lümmeligen Klamotten gegen sechs schwarze Jungfrauen in knackig engen Hosen und Schaftstiefeln, eher Motorrad- als Windsbräute. Verhandlungssache für Schreibtischstrategen, zwar nicht dem Inhalt, wohl aber der Form nach. Kaum ein Gefühl bricht sich Bahn, außer wenn die Männer und Frauen sich zuweilen an der Brandmauer abarbeiten. Kein Tröpfchen Blut fließt in den stark eingekürzten eindreiviertel Stunden. Nur Sprühregen rauscht malerisch – und werbemäßig dekorativ – auf die Streitparteien hernieder, befeuchtet Haut und Haar, Leder und Stoff, als müsse die Nässe irgendeine Körperausdünstung, eine Körperflüssigkeit ersetzen: Blut, Schweiß, Sperma, Tränen.
Die junge Regisseurin Lisa Nielebock kühlt Kleists hitziges Sprachdrama aus, ernüchtert seine Trunkenheit, löscht den Blutdurst, sieht die Größe des Gegenstandes gewissermaßen als Kleinigkeit an, setzt Situation gegen Emotion, mischt die Gegner keck zur räsonablen Runde. Es ist ein ernsthafter Versuch, eine Konzentrationsübung, sprachlich hell und erhellend, ein starker Ansatz der Vereinfachung, als würde das Stück einer dokumentarischen Besichtigung freigegeben. Jetzt könnte Anne Will zur Wetterkarte überleiten. Aber das Konzept trägt nicht, geht nicht auf, was auch, aber nicht nur an den Darstellern liegen mag: Thomas Anzenhofers Achilles wirkt wie ein braver Handwerksgeselle mit zupackend aufgekrempelten Ärmeln, der um kein Wort verlegen ist und seine Sätze vorträgt wie sinnige Bauernregeln. Die Penthesilea der Lena Schwarz turnt durch ihren Erregungszustand mit nervösen Zuckungen, Schlenkern und fohlenhaften Ausschlägen.
Ist wirklich etwas geschehen? Links sitzt Achilles, unberührt und unbeschadet, irgendwo steht Penthesilea, aufrecht ihre Handschuhe wringend. War da was? Alles war da, momentweise. Und doch ist nichts gewesen. AWI