Text und Interview: Stefanie Stadel
Unterwegs zwischen Atelier, Vortragssaal, Bibliothek. Und immer geht es bei Dietmar ELGER nur um den einen – Gerhard Richter. Seit Februar 2006 leitet der Kunsthistoriker das neu gegründete Gerhard-Richter-Archiv an den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, und Monat für Monat pendelt er nach Köln. Für diese Abstecher hat ELGER sich eigens eine Wohnung genommen. Nahe dem Nobelvorort Hahnwald, wo Richter lebt und wo er malt – meist ab 16, 17 Uhr, an rund einem halben Dutzend Bildern gleichzeitig. Das zur Straße hin fensterlose Atelier legt sich als langgestreckte Halle schützend vor das Wohnhaus der Familie. Mit seiner jungen Ehefrau Sabine hat Richter seit vergangenem Frühjahr das dritte Kind. Für den Nachmittag sind Archivar und Künstler verabredet. Es gibt einiges zu klären rund um Richters gesammelte Schriften, die Elger demnächst gemeinsam mit einem Kollegen veröffentlichen will. Am nächsten Tag ist der Experte zu Recherchen in Dortmund. Beim Blättern in alten Illustrierten will er dort Bildvorlagen für Richters berühmte Fotoverwischungen der 60er Jahre ausfindig machen – vor allem in »Stern« und »Quick« hat der Meister damals Inspiration gefunden. Die Suche nach den Originalen ist zeitraubend, kann aber sehr aufschlussreich sein. Denn oft erschließen sie den Kontext: die ursprünglichen Geschichten hinter den Bildern. So können sie vielleicht auch Hinweise auf inhaltliche Vorlieben geben, die Richter bei der Foto-Auswahl geleitet haben. Seit Studientagen fühlt Elger sich als Richter-Fan. 1980 ließ der Maler ihn dann vor zum Exklusiv-Interview: Für eine Seminararbeit über die Kunst der 60er Jahre durfte der Student den Star befragen. Es folgten regelmäßige Besuche. Nach der Dissertation ging Elger nach Köln und stand Richter zwei Jahre lang als Sekretär zu Diensten, nebenbei erstellte er ein Werkverzeichnis. Später wurde Elger Kustos, erst am Museum in Dortmund, dann in Hannover, wo er 1998 eine herausragende Ausstellung mit Richters Landschaften kuratierte. Vor knapp fünf Jahren veröffentlichte der Kenner eine dicke Biografie, die der theorielastigen Rezeption des Künstlers begegnet und erstmals Richters Werk in Beziehung zu seinem Leben sieht und bewertet. Ein Rezensent hat Elger als die Vertrauensperson beschrieben, der gegenüber sich der sonst so zurückhaltende Künstler geöffnet habe. Elger sieht das ähnlich. Am 9. Februar feiert der gebürtige Dresdner Gerhard Richter seinen 75. Geburtstag – Anlass für ein Gespräch mit dem Richter-Intimus.
K.WEST: Herr Elger, Sie durchforsten gerade alte Illustrierte nach Vorlagen für Richters frühe Fotoverwischungen. Lässt sich bei der damaligen Auswahl ein System erkennen?
ELGER: Zunächst fällt auf, dass Richter extrem selektiv vorgegangen ist. Er suchte offenbar nach ganz bestimmten Dingen. Immer wieder interessierten ihn dabei Bilder, die eine falsche Wirklichkeit vorspiegeln. Sie zeigen eine heile Welt und verbergen, dass Scheidung, Gewalt oder gar Mord dahinter stehen. Ein gutes Beispiel bietet »Helga Matura mit Verlobtem«. Dieses Bild führt ein scheinbar ungetrübtes voreheliches Familienglück vor, verschweigt aber, dass Matura eine Prostituierte war, die 1966 von einem Unbekannten ermordet wurde.
K.WEST: Es zeichnen sich also inhaltliche Vorlieben ab. Widerspricht das nicht der weitverbreiteten und auch vom Künstler wiederholt bekräftigten These, die Bildthemen seien ihm völlig unwichtig und die Motive beliebig?
ELGER: Ja, ganz bestimmt. Ein solcher Widerspruch ergibt sich ebenso bei den biografischen Bezügen. Richter und viele seiner Interpreten trennten scharf zwischen Leben und Werk. Doch hat der Künstler in Gesprächen mir gegenüber klar herausgestellt, dass einzelne Motive oder Inhalte seiner Bilder die eigene Lebenssituation widerspiegeln. Etwa jene kleine Werkgruppe mit dem Titel »Tourist«, gemalt 1975 in einer persönlich sehr schwierigen Phase. Dazu passt die Geschichte: Die Bilder gehen zurück auf einen Bericht im »Stern«, wo es um einen Touristen geht, der im Wildpark zum Fotografieren sein Auto verlassen hat und von einem Löwen zerrissen wurde.
K.WEST: Wie erklären Sie sich, dass Richter plötzlich seine persönliche Stimmung oder Situation ins Spiel bringt, dass er private Bezüge aufdeckt – nachdem er Verbindungen zwischen Malerei und Biografie doch so lange entschieden verneint hatte?
ELGER: Er selbst sagt, es sei eine »Schutzbehauptung« gewesen. Jetzt, wo er älter ist, sieht er die Sache wohl gelassener. Trotzdem – auch ich war zuerst verwundert, dass er ein Buch wie meines akzeptierte. Eine Darstellung, die auf einer populäreren Schiene kommt und bei der Deutung überall die Lebensgeschichte einbezieht. Ich wusste ja, wie sehr er die gewöhnlich ziemlich theoretischen Abhandlungen über sein Werk schätzt. Natürlich darf man dem Biografischen bei der Interpretation auch nicht zu große Bedeutung beimessen. Wozu dies führen kann, zeigte zuletzt der Wirbel um »Tante Marianne«.
K.WEST: Das Bild von 1965 geht zurück auf ein Foto aus den frühen 30er Jahren. Es zeigt Gerhard Richter als Baby auf dem Schoß seiner Tante, die später an Schizophrenie erkrankte und von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Jürgen Schreiber hat die Hintergründe gründlich recherchiert und in seinem Buch »Ein Maler aus Deutschland – Gerhard Richter. Drama einer Familie« dargelegt. In Zusammenhang mit der Versteigerung des Gemäldes letzten Juni bei Sotheby’s zog die Geschichte weite Kreise. Wie hat Richter darauf reagiert?
ELGER: Er war vor allem genervt.
K.WEST: Meinen sie, dass Tante Mariannes Schicksal eine Rolle gespielt hat bei der Entstehung des Werkes?
ELGER: Ja, das glaube ich schon. Vielleicht eher intuitiv. Es gibt aus dieser Zeit auch andere Arbeiten, in denen sich Richter mit dem Dritten Reich auseinandersetzt – »Herr Heyde« und »Onkel Rudi«. Bezeichnend ist wieder, dass er ein harmonisches Familienidyll malt und im Bild keinerlei Hinweis gibt auf die tragische Biografie der Tante – ganz ähnlich wie bei Helga Matura.
K.WEST: Die eigene Familie macht Richter auch später zum Thema, wenn auch auf andere Weise. Sehr privat wirken die kleinformatigen Gemälde der Serie »S. mit Kind«, in denen der Maler seine Frau 1995 mit dem gemeinsamen Sohn Moritz als kleines Baby zeigt. Wie lassen sich solche intimen Sujets in Einklang bringen mit der zurückhaltenden Art des Malers, der die Öffentlichkeit doch eher meidet und die Familie abschirmt?
ELGER: Mir ist immer wieder aufgefallen, dass Richter sich Schutzmechanismen schafft, die ihm das Malen solcher Bilder ermöglichen: Er versucht, den Gegenstand zu anonymisieren. Das zeigt sich hier bereits im Titel – die Rede ist nicht von Sabine, sondern nur von S. Auf der Leinwand wird das Motiv dann verwischt, übermalt, überrakelt, die Farbe mit dem Spachtel nachträglich wieder abgekratzt. So wirkt alles unpersönlich, verallgemeinert. Interessant ist auch, dass er den Zyklus zuerst in Nîmes ausgestellt hat. Es scheint, als wollte er ihn nur am Rande öffentlich machen. Das hat natürlich nicht funktioniert, denn noch vor ihrer Präsentation dort stellte ein großer Artikel im »Spiegel« die Werke vor.
K.WEST: Wie geht Richter mit der Öffentlichkeit um, wie wichtig ist dem Maler die Anerkennung des Publikums?
ELGER: Das bedeutet ihm schon einiges. Wenn er unsicher war, wie seine Arbeiten ankommen würden, stellte er sie darum zuerst an Orten vor, die nicht zu den Zentren der internationalen Kunst gehören. Oder er gab vor, dass solche Stücke für sein privates Umfeld bestimmt seien – so auch die Verkündigungsbilder nach Tizian. Richters Wunsch nach öffentlicher Anerkennung war letztlich ja auch der Grund gewesen für die Flucht aus der DDR, wo der Maler seine freien künstlerischen Experimente nur im kleinen Kreis zeigen konnte. Er selbst sagte später einmal, dass er in der DDR nie als nonkonformistischer Künstler hätte arbeiten können.
K.WEST: Nach dem Wechsel hat er die frühen Arbeiten aus dem Osten verworfen, er ließ nur das westdeutsche Werk ab 1961 gelten.
ELGER: Das ist auch okay, denn in der Bundesrepublik begann eine völlig neue Werkphase.
K.WEST: Sehen Sie weitere, vielleicht biografisch begründete Brüche im Werk? Die folgenden Jahrzehnte hindurch wird Richter ja ständig Neues erproben.
ELGER: Es gibt immer wieder Neuansätze. So muss es zum Beispiel wirklich wie ein riesiger Bruch gewirkt haben, als Richter nach den grauen Fotobildern ganz plötzlich lauter geometrische Farbtafeln malte – in sechs, zwölf oder 192 Farben. Ein Schock. Den Leuten damals erschien der Wandel sicher ungeheuerlich. Aber im Rückblick fügt sich alles konsequent in ein Gesamtwerk ein. Zumal Richter bei seinen Farbtafeln auf Karten zurückgriff, die er in Farbgeschäften fand. Er malte diese flächigen Vorlagen einfach ab. Die ursprüngliche Idee lag den Gemälden nach fotografischen Vorlagen also gar nicht so fern. Heute sehen wir, dass alles seine Logik hat.
K.WEST: Richters Stilprinzip sei der Stilwechsel – so heißt es gelegentlich. Was sagen Sie dazu?
ELGER: Das klingt natürlich so, als gehe es ihm nur darum, immer wieder etwas anderes auszuprobieren. Aber für Richter stellt sich nicht die Frage, was er noch nicht versucht hat, wie dies vielleicht bei Thomas Ruff der Fall ist. Richter, so scheint es mir, hat ein einziges Thema, das er in unterschiedlichen Stilen bearbeitet: Allgemein gesagt, dreht sich alles um die Möglichkeiten der Malerei in diesem Zeitalter medialer Massenbilder. Dietmar Elger: Gerhard Richter. Maler; DuMont Literatur-und Kunst-Verlag, 2002. Das Gerhard Richter Archiv in Dresden veranstaltet am 10. Februar 2007 ein eintägiges Symposium zum Werk von Gerhard Richter. www.Gerhard-Richter-Archiv.de