TEXT: ULRICH DEUTER
Was dem Theater in diesen seinen blutleeren Zeiten zum Beispiel guttäte, wäre ein Stück über Murat Kurnaz. Es wäre ein Drama darüber, wie schnell aus einem Abweichler ein Fremder und aus einem Fremden ein Feind wird. Wäre ein Stück über Kriegsgegner und Menschenfreunde in einer linken Regierung, vielleicht auch eines über Männer und Frauen, denn erst eine Regierungschefin brachte den zur Unperson erniedrigten Gefangenen nach Haus. Leider existiert die Tradition aktuell geschriebener Theaterstücke, anders als etwa in England, bei uns nicht, wir müssen auf ältere Werke zurückgreifen und geben die Last der Aktualisierung an die Regie. Die schlägt sich in diesem Fall aber wacker: Sie hat einen uralten Stoff (Medea- und Argonautensage), eine auch schon alte Aktualisierung (Grillparzers »Goldenes Vließ« von 1821) sowie eine jüngste, aber äußerst divergente Menge von Bildern und Geschichten um Fremde und Gäste, Eindringlinge und Abgewiesenwerden, Xenophobie und Exotenliebe, allochthon und autochthon, die sie verbinden will. Das kann kaum gelingen, aber der junge Regisseur Roger Vontobel findet doch einen Dreh. Er erschafft eine Atmosphäre aus Anspielung und Andeutung, in der all sein sperriges Material schweben kann – es als zeichenhaft verknappte Geschichte oder erzählte Erinnerung aufscheint, für anderes Platz macht, drittes evoziert, nie belehrt. Anders gesagt: Medea trägt kein Türkinnenkopftuch. Sondern Stiefel, enge Hose und Lederjacke, Ausdruck ihrer Selbstbestimmtheit, die sie allerdings jetzt am Asylort Korinth, um sich einzufügen, gegen Faltenrock und Mantel tauscht. Willig; widerwillig. Gespielt wird auf der Hinterbühne des Grillo-Theaters, wo auch das Publikum sitzt, auf einer V-förmigen Tribüne nah am Geschehen, drin in dieser Atmosphäre, deren Beklommenheit der geschlossene Eiserne Vorhang verstärkt. Kein Ausweg; auch an diesem Fluchtpunkt wird Medea als die Fremde verachtet und gefürchtet, wird ihr der Tod des Pelias angehängt, bei dem sie und Jason zuvor Heimat hatten. Jason (Guntram Brattia) ist ein Mann von schmerzlicher Müdigkeit, sichtlich um eine Balance zwischen Demut gegenüber Kreon, dem Asylgewährer, Stolz auf die eigene Vergangenheit (als Führer der Argonauten) und Sorge um Medea und die beiden Kinder bemüht. Um Contenance. Gut gespielt ist diese Figur, ein bärtiger, gebeugter Ex-Militär in Restuniform mit verschatteten Augen, wie von selbst erstehen Konturen und Facetten und verdichten sich zum Generalbild eines aus der Ordnung gefallenen Menschen: Flüchtling; (Vietnam-)Kriegsheimkehrer; vom Rausch mit der exotischen Frau Ernüchterter. Held; Feigling. Ihm zur Seite und zugleich weit entfernt die Medea der Barbara Hirt: ein Mädchen, das fast nur aus verbissenem Schmerz besteht, mit Augen, in deren stetigem dunklen Glühen eine maßlose Empörung vom Wissen um die eigene Ohnmacht erstickt wird. In ihr begegnet uns eher eine Antigone, also eine bis zur Selbstvernichtung Liebende, als eine Medea, also eine aus Verletzung Rächende. Und wirklich bleibt zumindest offen, ob Medea am Ende ihre Kinder tötet, als Jason sie zugunsten der Kreonstochter Kreusa (hier nicht mehr als ein blondes Blödchen) verlässt und sie vom Hof verwiesen wird. Franz Grillparzers Stück ist eine Trilogie; Vontobels und seines Dramaturgen Thomas Laue Fassung fängt mit Teil drei, dem Medea-Stoff an, und mischt dann Teil zwei, »Die Argonauten« (mit der Vlies-Heimholung) als Erinnerung und Rückschau ein, was gut gelingt; dass mit der Erzählzeit auch das Zuschauerpodest auf der Drehbühne rotiert, ist ein stimmig-schöner Einfall (Bühne Claudia Rohner). Leider ist die Akustik unter dem Schnürboden schlecht; vor allem jedoch verkommen einige (Kampf-)Szenen zu Gebrüll und Gerempel zwischen plötzlich flachen Schwarzweißfiguren. Was die Klugheit der Grundidee und Feinheit der meisten anderen Szenen nicht verdient haben.