Obwohl Rochus Aust Trompeter ist, gehört er nicht zu der Sorte Musiker, die sich schon mittags ihr Kölsch hinter die Binde gießen. Deshalb treff en wir uns in der Café Bar auf der Neusser Straße, wo der Alkohol aus der Gemeinschaft der lesenden StudentInnen ausgeschlossen ist. Wir bestellen eine Bionade Holunder und essen eine Suppe von undefi nierbarer Farbe und Geschmacksrichtung, während Rochus Aust von seinen Projekten erzählt. Denn er ist keineswegs nur Trompeter (obwohl auch das gelernt sein will), sondern einer jener vielseitigen, multimedial interessierten und orga nisatorisch versierten Künstler, für die es außer dem schrecklich verbrauchten Wort »Grenzgänger « eigentlich keine Branchenbezeichnung gibt.
Manchmal helfen verbale Umkreisungen. »Rochus Aust ist ein Raumwandler«, liest man im Kommentar zu seiner Installation »Subport Bergkamen (BSP)«. Unter vierzehn Kanaldeckeln der Fußgängerzone von Bergkamen hat Aust im vergangenen Jahr eine Klangund Lichtinszenierung kreiert, die einen gewaltigen unterirdischen Flughafen suggerierte – typischer Fall von Raumwandlung. Doch lesen wir weiter: »Ausgangsmaterial für seine utopischen Orte sind Versatzstücke aus dem (noch) gegenwärtigen Alltag. Er entzieht vertrauten Orten den Boden der Gewissheit, indem er durch fremdartige Funktionszuschreibungen Wahrnehmungsstrukturen und Wirklichkeitskonstrukte in Frage stellt. Seine Installationen sind öffentliche Räume, in denen die Einbildungskraft die Wahrnehmung überlistet.«
Erstaunlich ist die Zähigkeit und Phantasie, mit der Aust seit Jahren sein Konzept der Verfremdung und poetischen Umwertung selbst den kompliziertesten Räumen und sprödesten Geldgebern abtrotzt. Dabei ist ihm sein 1995 formiertes Ensemble brass of the moving image das unlängst in re-load futura umbenannt wurde, ein spielfreudiger Apparat in fl exibler Besetzung, der vor allem öffentliche Schauplätze des Ruhrgebiets durch »fremdartige Funktionszuschreibungen« verunsichert. In Glück liche Täter, glückliche Taten? wurde das Publikum von Musikern in Springerstiefeln, Bomberjacken und Strumpfmasken drangsaliert und durch die Kokerei Zollverein getrieben; der dritte horizont entstand auf der Halde Hoheward in Recklinghausen-Herten durch eine »extra-terrestrische und intermediale Bespielung«. Lüdenscheid wurde zum Lichtbahnhof, dem lumièroport, erklärt, während in Köln und Kassel ein Totentanz in fünfzehn Stationen an die Aufbahrung von Erzbischof Anno II. in Kölner Kirchen gemahnte (totgetanzt … ausgetanzt?).
Klingt aufregend. Enthusiasmiert bestelle ich einen Likör zum Espresso. Die StudentInnen blicken vorwurfsvoll von ihrer Lektüre auf, der Wirt winkt ab: no liquors. Derweil hebt Rochus Aust an, von seinem neuesten Unternehmen zu berichten, das er im »OPUS – neue bühne hAGEN«, einer Spielstätte des Hagener Theaters, auf die Bühne bringt. Auf keine gewöhnliche Bühne natürlich: das Publikum nimmt in einer »Medi Arena« Platz, einer Art Amphitheater, das durch eine elektronische Bildwand begrenzt wird. Diesmal hat Aust die Allmacht der Medien im Visier, die er – passend zur (vermutlichen) Abwahl Berlusconis – am Beispiel der nervtötenden Spiel- und Rateshows aufspießt. Der Showmaster Monsieur Arrière (verkörpert vom Schauspieler Fosco Perinti) wird seine beliebte »Makro-Scrabble-Show« moderieren. Nur läuft diesmal so ziemlich alles schief, bis hin zum Auftauchen eines Epileptiker-Chores, der von Sicherheitsbeamten versorgt wird. Die aus Litauen stammende Autorin Arna Aley (Im siebten Himmel ist Ruh) hat für die multimediale Groteske den Text verfasst, für die Ausstattung hat sich Aust mit seinem Ensemble-Klarinettisten Heinz Friedl, der auch Regie führt, und der Kostümbildnerin Bettina Lauer zusammengetan.
Eine märchenhafte Geschichte. Noch märchenhafter wirkt indes, dass diese »Schnittstellen-Kunst« (Aust) aus Musik, Text und Bühne von einem kleinen Stadttheater gestemmt wird, das unter der Ägide des scheidenden Intendanten Rainer Friedemann weder durch luxuriöse Sponsorprojekte noch durch Bühnen-Experimente von sich reden machte. Die gute Fee sitzt denn auch 30 Kilometer südwestlich im NRW Kultursekretariat an der Wuppertaler Friedrich-Engels-Allee – und das neue Förderprojekt trägt den Namen »Fonds Experimentelles Musiktheater«. Zusammen mit der Kunststiftung NRW stellt das Kultursekretariat 80.000 Euro für die Produktion von »monsieur arrière« zur Verfügung, außerdem begleicht man in Wuppertal die »Overhead-Kosten« für Programmhefte, überregionale Werbung und das Honorar für den Dramaturgen (und Komponisten) Thomas Witzmann, der die Fonds-Projekte fachlich und organisatorisch betreut. Dafür erwartet man von den koproduzierenden Theatern nicht Bares, sondern »geldwerte« Leistungen, die durch hauseigene Werkstätten, Bühnentechnik, Marketingabteilung usw. erbracht werden. Für Christian Esch, Chef des NRW Kultursekretariats, ist der »Fonds Experimentelles Musiktheater« das Lieblingskind seit seinem Amtsantritt. »Wir provozieren damit etwas, das außerhalb von Theatern entsteht, dann aber in Theatern uraufgeführt wird. Das heißt: das finanzielle Risiko wird außerhalb des Hauses getragen, während die Theater selbst (fast) fertige Produktion zeigen können – ohne all die infrastrukturellen Dinge für eine experimentelle Situation leisten zu müssen. Insofern fördert der Fonds auch unterschiedliche Formen des Produzierens: das freie Produzieren wird mit den Produktionsbedingungen an einem festen Haus zusammengebunden.« Auch durch diese laborhafte Form der Erfindung und des Produzierens unterscheidet sich der »Fonds Experimentelles Musiktheater« vom bereits bestehenden »Fonds Neues Musiktheater« – ein feiner Unterschied, der nicht nur bei den Theaterleuten für Verwirrung sorgt. Für Esch ist die Sache eindeutig: »Aus dem alten Fonds werden existierende Werke gefördert, die – da haben wir den Zeitraum etwas erweitert – nach 1950 komponiert wurden. Das können durchaus Uraufführungen sein, wenn sie der klassischen Gewichtung von Musik und Text im Sinne der Vertonung eines Librettos entsprechen. Ich denke etwa an Roland Mosers Kammeroper Avatar in Gelsenkirchen oder an Dessaus Einstein am Theater Dortmund, an denen wir uns in diesem Jahr beteiligt haben. Dagegen sollen mit dem neuen Fonds Theaterexperimente ermutigt werden, bei denen alles gleichzeitig entsteht: Text, Musik, Bühne bzw. Installation, Regie. Der Autor schreibt den Text, während er komponiert wird. Der Komponist kommuniziert entsprechend stark mit dem Autor – und umgekehrt. Aber auch Ausstattung und Inszenierung spielen von vornherein eine Rolle. Alle Personen sind dabei und haben während der Entstehung ein Auge darauf, wie sich das Ganze in einen Bühnenraum fügt.«
Außer dieser Vorgabe der genreübergreifenden Beteiligung der Kunstsparten bis hin zu Video und Live-Elektronik sind die Kriterien für die Förderung möglichst offen gehalten – ästhetische Direktiven sollen vermieden werden. Als Pilotprojekt außer Konkurrenz wurden Aust und sein »monsieur arrière« vorgezogen. Die vierzig Einsendungen von Projekten auf die erste reguläre Ausschreibung lassen indes erkennen, dass Esch die Zeichen der Zeit erkannt hat. Die Sichtung übernahm eine Jury mit dem Komponisten Heiner Goebbels, dem ehemaligen Aachener Intendanten Paul Esterházy und der Schauspielregisseurin (und künftigen Düsseldorfer Intendantin) Amelie Niermeyer. Ausgewählt wurde ein Projekt mit dem Arbeitstitel »Die Schiffbrüchigen«, wobei die Komponistin Lucia Ronchetti in der Szene längst keine Unbekannte mehr ist. Hinzu kommen die junge Bühnenautorin Steffi Hensel, die bereits Erfahrung mit Stückentwicklungen an Theatern hat, der Regisseur Michael v. zur Mühlen und der Ausstatter Sebastian Hannak. Bereits im Dezember soll Premiere am Theater Münster sein: wiederum an einem »normalen Theater vor einem normalen Publikum«, wie Esch betont.
So versucht man einer kaum mehr zu übersehenen Tendenz im zeitgenössischen Theater gleichsam »von oben« zu Kontinuität und »Verstetigung« zu verhelfen, wie es Christian Esch nicht ohne Augenzwinkern nennt. Wobei ihm, dem gelernten Dramaturgen, die historische Dimension des »Fonds Experimentelles Musiktheater« bewusst ist. »Musiktheater muss sich stärker zwischen den Formen Schauspiel und Musiktheater im klassischen Sinne bewegen. Wir hatten in den zwanziger Jahren in Deutschland viele Ansätze in dieser Richtung: Weill, Schulhoff, Schwitters. Das ist abgerissen und nicht eigentlich fortgesetzt worden. Wäre es nicht interessant, jetzt daran anzuknüpfen, ohne ein Revival der zwanziger Jahre zu machen?« //
Rochus Aust, »Monsieur Arrières Makro Scrabble«, OPUS – neue bühne hagen; Vorstellungen am 6. und 13. Mai 2006; Tel. 02331/207-32180; www.theather.hagen.de