TEXT: ULRICH DEUTER
Sphärisches Klopfen, Stimmengewirr, Satzfetzen einer Jazz-heiseren Stimme, Gehgeräusche, die mit einem Rhythmus verschmelzen, Musik. / Nervöses Pochen, aufgeschreckt macht eine Stimme: »Ach so, jetzt! Ach hier!« Ein heftiger elektronischer Fieper zählt einen Countdown, ein Bersten und Knallen, dann: »Ich bin… ich kenne mich doch!« / Schwebendes Rauschen, vielleicht das in einem Flugzeuginnern, der Refrain eines kitschig-sehnsüchtigen Pop-Songs mischt sich ein: »Zeppelin flieg!«, dann heult eine Düsenturbine. – Was ist das? Wo sind wir? Was will da ins Ohr? Wir hören Radio, aber es klingt nicht wie sonst. Da erlöst uns eine Ansage, eine vertraute Sprecherstimme verkündet: »WDR drei – pe em.« Aber nur kurzfristig wissen wir Bescheid, denn die Collage aus Stimmen, Sounds, Geräuschen, aus Musik und Texten geht einfach weiter. Ein Song nimmt sich Zeit, aber von wem ist er? Ein Ausschnitt aus irgendeiner Debatte über das Gehirn macht sich breit, aber welche ist es? Flügelklatschen, dann wird ein Barockgedicht über Ikarus gelesen, seinerseits von Musik untermalt.
Schritte wie unter weitem Himmel sind zu hören, sie enden nicht, während ein Text von Peter Rosei beginnt: »Einfach unterwegs sein, von Nirgendwo nach Nirgendwo, gehen um des Gehens willen…« Hören um des Hörens willen. Es ist Samstagnachmittag, die vielleicht offensten Stunden der Woche, Zeit, die sich dehnen darf. Hier, zwischen 15.05 Uhr und 18 Uhr, ist seit März 2001 eine Sendung zu erleben, die selbst zum offensten zählst, was das Radio derzeit zu bieten hat: WDR 3.pm – 3 für das dritte Programm, 3.pm für die Uhrzeit des Beginns. Radio kann Information, Unterhaltung, Musik, akustische Kunst sein. Kann als Hintergrund Hausarbeit oder Autofahren begleiten, kann wie nichts sonst die Aufmerksamkeit fesseln und die Phantasie auf Reisen schicken. 3.pm ist all dies zugleich. Als vor fünf Jahren der WDR eine Reform seines Hörfunkprogramms beschloss, war es das Anliegen des damals neu bestallten WDR 3-Chefs Karl Karst, auf seiner Welle die für ein Kulturradio klassische Trennung von Wort und Musik, von E- und U-Musik, Jazz, Feature und Hörspiel wenigstens partiell zu überwinden; die Folge sind heute so angesehene Sendeplätze wie das allabendliche WDR open, die Musikpassagen jeden Nachmittag. Und eben WDR 3.pm.
Das Konzept der Sendung ist simpel, seine Folge das Gegenteil. Jedes 3.pm beugt sich einem Leitgedanken, einer Überschrift, doch nicht auf stringent argumentative Weise, sondern assoziativ und mit sämtlichen Gestaltungsmitteln des Radiophonen. Literarische oder Gebrauchstexte führen ins Thema, akustische Zitate erhellen oder verdunkeln es, Atmosphären und O-Ton-Schnipsel ziehen in die passende Stimmung, Musik trennt, untermalt oder verstärkt, Minihördramen erläutern und erheitern. Und all dies so vielschichtig verwoben und perfekt verzahnt, dass ein kompliziert gemusterter akustischer Essay aus Gedanke und Stimmung entsteht, ein thematischer Groove, eine hellwache Hörtrance, die immer neu angeregt und nie unterbrochen wird. Im Idealfall öffnen Literatur, Collagen, Musik aus sich selbst heraus einen Blick auf das Thema und legen dabei viele verschiedene Sichtachsen an, ohne dass das Jeweilige erklärt werden müsste. Denn WDR 3.pm ist kein Feature, seine radiophone Orgel zieht alle Register, nur eines nicht: das der Moderation. Keine Meta-Instanz nimmt an die Hand oder setzt den soundgefüllten Kopf zurecht. 3.pm lässt den Hörer mit dem Gehörten allein.
Über 200 Sendungen sind mittlerweile entstanden, jede 175 Minuten lang. »Jeder Schritt ist ein Gedanke. Vom Gehen und Wandern, Flanieren und Marschieren«, hieß eine. »Der Traum vom Fliegen. Wenn Fantasie Materie Flügel verleiht«, eine andere. Eine dritte: »Mein Geheimnis, Dein Geheimnis – Vom Umgang mit der Indiskretion «, oder: »Ewig flüchtig immer da – Staub. Zur Akzeptanz des Unvermeidlichen«. »Eng ist die Welt und das Gehirn ist weit. Selbstbilder eines Zentralorgans«, ein Beitrag von Katja Teubner (Regie und Produktion) und Mario Angelo (Autor), bekam 2004 die »Gold WorldMedal« der New Yorker »Radio Programming and Promotion Awards«.
Mit dem Thema fängt alles an. 3.pm-Themen, das sind solche, die in sich bereits eine Unschärfe bergen, eine Tendenz zum gedanklichen Schweifen und atmosphärischen Driften besitzen. »Auf keinen Fall wollen wir einfach einen Korb mit Material zu einem Stichwort füllen «, sagt Gabriele Faust, die Redakteurin. »Es geht uns um ein Thema, das eine Frage formuliert, eine Behauptung aufstellt, das in sich schon einen Widerspruch enthält oder eine Botschaft äußert.« Der Erfolg hat viele Väter. Gesichert ist, dass die Mutter der Sendung am Entstehen von WDR 3.pm keinen Anteil hat, Gabriele Faust verantwortet den Programmplatz erst seit Januar 2004. Nachdem er anfangs von einem Wort- und einem Musikredakteur gemeinsam betreut worden war, ist er mittlerweile allein der Musikredaktion von WDR 3 zugeordnet, was nicht heißt, dass die spartensprengende Grundidee aufgegeben worden wäre, die Doppelung stieß aber wohl an die organisatorischen Grenzen der Anstalt.
Generell liegt, was eine avancierte Internet-Begleitung seiner Programme betrifft, der WDR hinter dem Deutschlandfunk oder SWR weit zurück; so bietet die Website von WDR 3.pm zwar einen detaillierten Laufplan jeder Sendung, aber nicht die Sendung selbst per Streaming oder mp3-Datei; auch die ursprünglich geplante Benennung des gerade Gehörten per RDS (Radio Data System, Zusatzinformationen auf den Displays der Radios) wurde nicht verwirklicht. Das würde WDR 3.pm vervollkommnen, denn an- oder abgesagt werden in der Regel nur die (allerdings zahlreichen) literarischen Bestandteile; die Musik und das meiste andere bleiben unbenannt – einmal, um den Sound-Essay-Charakter nicht zu verletzen, zum andern, um den Fluss nicht zu unterbrechen. Und auf den kommt alles an.
Wer 3.pm hört, flaniert mit den Ohren. Das ist die Chance, aber auch die Gefahr. Denn das Prinzip des Flanierens verbietet das Rennen, aber auch das allzu lange Stehenbleiben – also muss die Dramaturgie der Sendung für die richtige und konstante Geschwindigkeit, zugleich aber auch für beständig neue Reize sorgen. Was, wenn es gelingt, einen Sog erzeugt, aus dem man weniger um Wissen denn um Anregung bereichert auftaucht. Nach den drei Stunden einer guten 3.pm-Sendung fühlt man sich auf sonderbare Weise gestimmt, will sagen wie ein Musikinstrument in Harmonie und Spielbereitschaft gebracht. Solche gelungenen Sendungen sind die übers Fliegen von Susanne Rump und Thomas Synofzik, die von Karl Lippegaus übers Gehen (oder sein »Wer durch mein Leben will, muss durch mein Zimmer «), nicht zuletzt die von Mario Angelo, der allein sechs neue Beiträge jährlich produziert, deren fein verzahnter Aufbau, zusammen mit den selbst geschriebenen Sketchen und Dramolettchen Radiomeisterstücke sind.
Schwächeren Autoren hingegen wird das Prinzip 3.pm zur Falle, sie bleiben irgendwann auf der Stelle stehen, wissen konträre Aspekte nicht umzusetzen oder verzagen vor der möglichen Weite des Themas – der radiomultiphone Essay wird zum akustischen Vortrag in der Wiederholungsschleife. Auch dafür gibt es Beispiele in der reichen Geschichte von 3.pm, Beispiele von Betulichkeit oder ängstlicher Bruchvermeidung.
Jeder Beitrag besteht aus hunderten auditiver Einzelteile, das Ganze ist so komplex, dass ein Manuskript leicht 100 Seiten stark sein kann.Vorausgegangen ist eine wochenlange intensive Literatur- und Musikrecherche.3.pm-Autoren müssen in beiden Sparten zuhause sein und zudem das Medium Radio in all seinen Facetten kennen – »solche Autoren sind schwer zu finden«, sagt die Redakteurin. Produziert, also aufgenommen, gemixt, geschnitten wird jede Sendung in nur fünf bis sechs Tagen – ein einstündiges Hörspiel klassischer Art hat dafür auch mal zwei Wochen zur Verfügung. Der Zeitdruck hat zur Konsequenz, dass etwa die längeren Literatur-Passagen nur à la Hörbuch gelesen und nicht auch mal wie ein Hörspiel inszeniert werden können; der Hörbuchtonfall aber wirkt für das Format oft zu getragen und altmodisch, zu wenig spielerisch. Ließe sich ein so avanciertes Stück Radiokunst nicht auch hier weiter entwickeln? Denn eine Sendung wie WDR 3.pm ist die beste Rechtfertigung für die Existenz einer Kulturwelle, von öffentlich-rechtlichem Rundfunk und von Rundfunkgebühren. 3.pm ist eben mehr als ein Wort- Musik-Crossover, mehr als ein Gegenstück zur medialen Kurzatmigkeit – es ist ein Stück Radiomagie. Selbst nach vielen gehörten Sendungen weiß man immer noch nicht, warum. Nur, dass man die nächste nicht verpassen wird: kommenden Samstag um 15:05 Uhr. //
»WDR 3.pm« im Juni 2006 bietet die Themen Tibet, Fußball (von Andreas Ammer), »1956« und Das Böse (von Mario Angelo). www.wdr.de/radio/wdr3/sendung.phtml?sendung=WDR+3.pm