Er wollte unbedingt anonym bleiben, das gehörte zur Taktik. Nur wenige kannten sein Gesicht, denn Henri Cartier-Bresson verrichtete seine Arbeit immer absolut unauffällig – und blitzschnell. Fotografieren, das hieß für ihn einfach, »auf den Auslöser drücken, im richtigen Augenblick den Finger senken«.Mit seinem Gespür für den »moment décisif« ist er berühmt geworden und wegweisend in der Geschichte des Mediums.
Die Ludwig Galerie Schloss Oberhausen schaut nun noch einmal zurück auf das Lebenswerk des großen Fotografen und kaum bekannten Zeichners. Das Schwergewicht liegt erwartungsgemäß auf den Fotografien – rund 150 sind zu einer kleinen Retrospektive versammelt. Darunter etliche vertraute Szenen, die Morgenandacht in Kaschmir etwa oder das sommerliche Sonntags-Picknick am Ufer der Marne mit leer gegessenen Tellern und einem letzten Gläschen Rotwein.
Auch das Foto aus dem Internierungslager in Dessau: Cartier-Bresson erfasst haargenau den Moment, in dem eine Gefangene voller Entrüstung jene Frau wiedererkennt, die sie einst verraten hatte.Daneben glänzen die starken Künstlerporträts: der alte Henri Matisse, wie er zwischen Vogelkäfigen eine weiße Taube hält.
Oder Alberto Giacometti, der, eine Skulptur in den Händen, durch sein Studio hastet.Sein Oberkörper ist geneigt, das Bein bewegt sich forsch nach vorn. Fast schaut es aus, als würde der Künstler die Haltung einer seiner Bronzefiguren nachvollziehen.
Cartier-Bresson persönlich hatte die Auswahl der Fotografien für die Schau getroffen, am Ende seines fast 96 Jahre langen Lebens.Er starb im August 2004. Die Vereinigten Staaten, Spanien, Burma, Pakistan, Indonesien, Kanada, Kuba, Japan, Indien, Sowjetunion – über Jahrzehnte war er fotografierend von Augenblick zu Augeblick geeilt. 1937 zur Krönung von George VI. zückte er die Leica auf dem Trafalgar Square und Anfang der 60er Jahre an der eben errichteten Mauer in Berlin. Die Bezeichnung »Fotojournalist« trifft allerdings nur sehr bedingt auf ihn zu.
Denn der Tagesaktualität scheinen die meisten seiner Bilder entrückt.Fotografie, so formulierte Cartier-Bresson einmal, das sei »ein spontaner Impuls, der aus unablässigem Schauen erwächst und der den Augenblick und seine Ewigkeit festhält.« Was das heißt? Die Bilder erklären es am besten.
Besonders anschaulich die Meisterleistung von 1932, aufgenommen an der Gare Saint- Lazare in Paris. Der Fotograf stand ganz am Beginn seiner Karriere, als er den Mann beim offenbar zu kurzen Sprung über eine Riesenpfütze ablichtete: Noch hängt das Modell in der Luft, doch der unausweichlich nasse Ausgang des Unternehmens ist bereits absehbar.
Im spiegelglatten Pfützenwasser erscheint der waghalsige Sprung noch einmal auf dem Kopf, und am Zaun im Hintergrund hängt zufällig ein Zirkusplakat mit einer Artistin in ganz ähnlicher Pose.
Solche fotografischen Gelegenheiten kommen nur einmal. Darum war Cartier-Bresson unablässig auf der Jagd, die Leica immer im Anschlag. Er hatte dabei nicht allein die Situation im Auge. Auch die Komposition musste stimmen. »Man verändert seine Position um einen Millimeter, und die Geometrie ändert sich«, so bemerkte der ausgebildete Maler einmal. Als Fotograf ist er weltberühmt geworden, doch seine Berufung sah der Bildermacher ebenso im Malen und Zeichnen. Mitte der 70er Jahre bereits legte Cartier-Bresson die Kamera beiseite und verkündete, er werde künftig nur noch zeichnen. Die Oberhausener Ausstellung zeigt die mit ihren Schraffuren an Giacometti erinnernden Zeichnungen nun erstmals gleichberechtigt neben den Fotografien.
Mit Kreide und Kohle wollte er »eine neue Krone« erobern, doch erntete der gefeierte Fotograf als Zeichner nur mehr Höflichkeitserfolge.
Ludwig Galerie Schloss Oberhausen. Bis 27. August 2006. Tel.: 0208/412 4928; www.ludwiggalerie.de