Mit 20 Jahren fängt er »gerade an zu denken und zu leben«. Sieht sich als schwach, leer, schlampig. Ist uneins mit sich, seinem Körper, seinem Wollen – und doch schon der, der er einmal sein wird: der Monumentalkünstler Einar Schleef, Bühnenbildner, Maler, Regisseur, Schrift steller, Chorführer, Solist. Er will nach Berlin, fort von Sangerhausen, der »Hölle« mit der erdrückenden Mutter »Gertrud « und dem tobenden Vater. Noch besucht er die verachtete Schule, nachdem er in der 9. Klasse nach schwerem Unfall ein Jahr lang im Krankenhaus lag. Dann endlich in Ostberlin angekommen, will er wieder zurück, um irgendwann Eltern und Heimat ganz zu verlassen. Nicht ohne Trennschmerz, Verlorenheit und Verlusten, erst recht, als »Reisekader« Schleef 1976 nach der dritten Wien-Reise im Westen bleibt. Seine Bühnenarbeit hallt zwar bereits im Honecker-Staat nach, wird aber als nonkonform unterdrückt.
Kaum an der Kunsthochschule Weißensee aufgenommen, wird er exmatrikuliert. So soll es fortan gehen: Annahme und Ablehnung, Begabung und Verklemmung, Unbotmäßigkeit und Anpassung – die Katastrophe des Mannes und Künstlers, der noch nicht (und niemals bis zum fürchterlich frühen Tod am 21. Juli 2001) mit sich im Reinen ist. Ein Menschen-Fresser und -Flüchter, von Krankheiten, seinem Sprachfehler, der »Geld-Neurose « geplagt, sinnlich, jämmerlich, schwanzgesteuert, hoch intelligent. Die Tagebücher dokumentie
ren seinen Kampf mit sich, den Selbsthass auf das »Dreckschwein«, das nur nimmt, frisst und fi ckt, bindungsgestört und voller Sehnsucht ist. »In mir tobt viel Dreck.« Sie halten brutal und sensibel Gerichtstag über das eigene Ich, sind Selbstdenunziation und selbstbewusste Positionierung, auch wenn der Student und Assistent sich noch nicht gefunden hat. Sie legen Zeugnis ab von seinen Krisen und Kontroversen mit den Menschen, den Frauen und Müttern seiner Kinder, mit den Männern, seinem erotischen Begehren für sie und seinem Widerwillen gegen Homosexualität, mit der verrotteten, verkrusteten zweiten deutschen Republik, mit dem Th eater (besonders dem BE) in seiner Stumpfh eit, mit »Angst, Dummheit, Lüge«. Wer das liest, erfährt, wie sehr der Sozialismus schon damals im Eimer war.Schleefs radikale Konfessionen – kommentiert mit eigenen Nachträgen und bereits von früh an in ihrem schnoddrig-präzisen Erzählton von literarischer Originalität – zeigen seine Emphase und Empfi ndlichkeit für die Kunst. Er benotet Th eater, Oper, Kino. Vermerkt prägende Erlebnisse wie »Der grüne Tisch« von Kurt Jooss und Strehlers Mailänder Goldoni mit für ihn maßgeblichen Einsichten in Formenkanon, Bewegungsvokabular und Raumordnung. Registriert mit sicherstem Ausdruck Qualität – von Bach und Händel, von Bergman, Pasolini, Polanski, Visconti, von Breughel, Rembrandt, Veronese, Picasso.
Schleef ist in seinen lutherisch derben Aufzeichnungen Hiob und Heiland, ekstatisch wie Nietzsche, beklemmend wie Strindberg, selbstsüchtig wie Wagner, penibel wie Th omas Mann, von physischer Schönheit gefangen wie Michelangelo. Alltagsbegriff e scheinen zu klein für ihn. Die großen uralten kommen einem in den Sinn: Schicksal, Schuld, Sühne. Eine Lektüre als unwegsame, aufreibende Abenteuerfahrt zu Herz und Hirn eines deutschen Meisters des 20. Jahrhunderts.
Einar Schleef: Tagebücher 1964-1976. Suhrkamp Verlag 2006, 480 S., 30,- €