Für den Fall, dass er von lästigen Journalisten auf die Unvereinbarkeit von Weltrevolution und Luxusleben angesprochen wurde, hat Hans Werner Henze einen Kalauer parat: »Besser ein Kommunist im Rolls Royce als ein Faschist im Panzer«. Der Kommunist im Rolls Royce, das ist er selbst – gleichsam das kleinere Übel in einer Welt voller Widersprüchlichkeiten, Inkonsequenzen, unerreichter Ideale. Ein paar Mal hat der zum Großbürger aufgestiegene Sohn eines westfälischen Volksschullehrers versucht, prononciert »links« zu handeln und zu wirken. In den heroischen Endsechzigen etwa, als Henze die Sinnkrise des allzu schnell arrivierten Vorzeige-Modernisten durchlebte und Fluchtwege suchte. Damals ging er nach Berlin und gegen den Vietnamkrieg auf die Straße, wurde Mitglied der DKP, schrieb anspruchsvoll agitierende Musik und mischte sich auf Kuba unter die Landarbeiter. Ein Bilderbuch-Engagement – bis auf einen Schönheitsfehler: Henze wurde keineswegs zum Kommunarden, sondern genoss weiterhin seine bürgerlichen Bequemlichkeiten, zu denen sein ländlicher Palazzo in Marino und potente Autos zählten. Bis heute lässt sich Henze nicht ideologisch vereinnahmen, sondern wahrt die Distanz des Künstlers als Außenseiter. Für ihn, der ein Leben lang der Schönheit nachstrebte, ist auch das politische Engagement ein ästhetisches – eine notwendige Etappe auf dem Weg durch das »größte Dunkel des Zeitalters«, an dessen Ende die klassischen Schönheitsideale utopisch aufleuchten. Nicht alle Freunde und Kollegen hielten diese doppelte Sehnsucht nach Tradition und Weltverbesserung für legitim. Ein überzeugter Kommunist wie Luigi Nono, der Henze anfangs freundschaftlich zugetan war, warf ihm später den bourgeoisen Flirt mit der Revolution vor. Der Kommunist im Rolls Royce erschien Nono hinterhältiger und gefährlicher als der klar erkennbare Faschist im Panzer.
Immer hat Henze unter solchen Anfeindungen gelitten und tut es wahrscheinlich bis heute. Doch verleihen ihm gerade seine Ungereimtheiten, Risse und Wundmale ein menschliches Format, das manchem Wahrheitsfanatiker unter den Kollegen abgeht. Schon äußerlich zählt Henze zu den markantesten Köpfen der heutigen Musikkultur. Während er auf Jugendfotos noch als ephebenhafter Jüngling mit träumerischem und weltzweiflerischem Blick erscheint, steht er im Alter als ein Grande der Neuen Musik vor uns: eine untersetzte, meist in feines Tuch gehüllte Gestalt, die durch eine Mischung aus Schüchternheit und altmodischer Höflichkeit überrascht. Dem schweren, kahlen Charakterschädel merkt man durchaus die ostwestfälische Herkunft an, wie sie Henze einmal launig heraufbeschworen hat: »Es war in meiner Familie alles sehr niedersächsisch und westfälisch, also Scholle und Lehm. Schon Heine beschreibt ja in Deutschland, ein Wintermärchen, wie er dort im Lehm stecken geblieben ist und ihn die Traurigkeit des Lebens übermannt hat – wegen der Omnipräsenz des Regens und des Lehms. Dabei war alles so ärmlich und perspektivlos. Ein Leben im Bachschen Kantatenstil: Buß und Reu knirscht das Sündenherz entzwei.«
Nach 1933 bekam das harte, aber liebenswürdige Sittenbild aus Gütersloh, wo Henze am 1. Juli 1926 geboren wurde, hässliche braune Flecken. Der Vater wurde ein strammes NSDAP-Mitglied und drohte dem Sohn wegen seiner homophilen Neigungen unverhohlen mit dem KZ – eine seelische Grausamkeit, die Henzes permanenten Schrei nach Liebe im Leben und in der Kunst wohl zum Teil erklärt. Nach dem Krieg kehrte der Vater nicht von der Ostfront zurück, während der Sohn zielstrebig seine musikalische Karriere verfolgte: Studium bei Wolfgang Fortner und René Leibowitz, Theaterdienst in Konstanz und Wiesbaden, fleißiges Komponieren von Opern, Balletten, Sinfonien, Kammermusik. Henze gehörte zu den großen deutschen Komponistenhoffnungen, war erfolgreich – und dennoch unglücklich. Das repressive politische Klima in der Bundesrepublik mit ihren Nazi-Altlasten, seine Ausgrenzung als Homosexueller, aber auch durch die Darmstädter Avantgarde, deren mathematischer Konstruktivismus ihm zuwider waren: all dies trieb ihn 1953 für immer nach Italien. Erst nach Ischia, später nach Neapel und schließlich nach Marino, wo er bis heute auf luftigen Höhen zwischen uralten Olivenbäumen residiert. Doch er kam nicht als Tourist, der den sozialen Charme und die grandiose Natur Italiens als Kulisse für seine Deutschlandmüdigkeit brauchte. Wie Wenige hat sich Henze, der sich sofort »in das italienische Volk verliebte«, auf sein Gastland eingelassen. Intellektuelle wie Visconti, Pasolini oder Elsa Morante wurden ihm Freunde und Bundesgenossen; er bekam Zugang zur High Society und vergaß dennoch nie die Volksbildung. In seinem bekanntesten Projekt, dem »Cantiere internazionale d’arte«, hat er die musikalische Grundversorgung der toskanischen Kleinstadt Montepulciano einer notorisch unberechenbaren Politik und Bürokratie abgetrotzt. Als Wahlitaliener konnte Henze zudem aus heilsamer Distanz seine (nie verleugnete) Identität als Deutscher neu formulieren– am eindrucksvollsten vielleicht in seiner Neunten Sinfonie mit Chor (1997), die Episoden aus Anna Seghers’ Roman »Das siebte Kreuz« als Medium seines Nachdenkens über Deutschland benutzt.
Dabei hatte Henze bei seiner Flucht nach Italien eine Verbündete, die selbst aus der (österreichischen) Provinz stammte und unter dem Trauma des Faschismus in der eigenen Familie litt. Henze hatte die fast gleichaltrige Ingeborg Bachmann 1952 bei einem Treffen der »Gruppe 47« kennen gelernt.
»Dort befand sich nun, unter den vielen illustren Köpfen, die damals noch vorwiegend auf Männerkörpern zu sitzen pflegten, eine elfenhafte Erscheinung mit schönen großen Augen und zitternden Lidern, wunderbaren Händen – eine Person, von der eine Aura und Empfindsamkeit ausging, eine Verkörperung von Qualität, ein Mensch mit Grazie und Charme, wie von der Nachtigall geboren. […] Sie war sechs Tage älter als ich, aber ihr Wissen – um die Welt, um die Menschen, um die Dinge der Kunst – übertraf das meine um zweitausend Jahr. Ich lehnte mich an sie an, ihr Geist half meiner Schwachheit auf.« Die Beziehung zur Bachmann wurde für Henze zum entscheidenden Erlebnis gegenseitigen Verständnisses. Gemeinsam hat man Italien erkundet, Wohnungen geteilt, sogar absurde Heiratspläne gefasst, vor allem aber das Verhältnis zwischen Musik und Sprache durchdacht. Die Unbedingtheit der Literatur Bachmanns und die Musikalität ihrer Sprache schärften Henzes Gespür für die »Sprachhaftigkeit « seiner Kunst, die nicht nur Vokalwerke, sondern auch den instrumentalen Gestus betrafen. Obwohl Henze mit vielen prominenten Autoren von Wystan Hugh Auden über Edward Bond bis zu Enzensberger und Hans-Ulrich Treichel zusammenarbeitete, gehörte die Arbeit mit Ingeborg Bachmann an den Opern »Der Prinz von Homburg« und »Der junge Lord« doch zu den beglückenden Zusammentreffen der Operngeschichte.
Der Feuertod der »großen Schwester« im Oktober 1973 steigerten bei ihm Schock und allgemeine Resignation, die durch den Putsch gegen Allende in Chile und das Verebben der Studentenbewegung ausgelöst worden waren. Der Tod spielte in Henzes Musik fortan sehr vernehmlich auf: in den »Tristan-Préludes« für Klavier und Orchester, in der politischen Oper »We Come to the River« oder später im instrumentalen »Requiem« von 1993, in dem der erste Irak-Krieg und das Wüten der Aids- Krankheit in Henzes Freundeskreis betrauert werden. »Tristan«, »Requiem« und »Neunte Sinfonie« sind in dem schier unübersehbaren OEuvre des Komponisten drei markante Bespiel für seine Idee einer »musica impura«, die keiner Schule und Ideologie folgt, sondern die ewigen Fragen nach dem Woher und Wohin auf eigene Art angeht: im vollen Bewusstsein der vierhundertjährigen Musiktradition und eines brillant beherrschten Handwerks – aber auch wissend, dass Musik kein Glasperlenspiel ist, sondern einen Hoffnungsschimmer in trostloser Welt abgeben kann. Ingeborg Bachmann hat diesen hehren Kunstanspruch in ihrem Gedicht »Enigma« formuliert, das Henze gewidmet ist:
»Nichts wird mehr kommen.
Frühling wird nicht mehr werden. / Tausendjährige Kalender sagen es jedem / voraus.
Aber auch Sommer und weiterhin, / was so gute Namen / wie »sommerlich« hat – / es wird nichts mehr kommen.
Du sollst ja nicht weinen, / sagt eine Musik.
Sonst / sagt / niemand / etwas.« //