Das Pilger-Paar, das die recht weltliche Madonna von Loreto auf der Schwelle anbetet, hat derbe Gesichtszüge, geflickte Kleider und der Mann schmutzige Fußsohlen, die den Kirchenaltar von Sant’Agostino in Rom, über dem das Gemälde in knappem Abstand Platz erhielt, zu besudeln scheinen. Die Jünger des Herrn sind eher arme Schlucker, die Heiligen vom Verfall gezeichnet. Die »Berufung des Evangelisten Matthäus« ereignet sich am Spieltisch in einer schummrigen Kaschemme. Der künftige Verkünder Christi unterscheidet sich in nichts vom Milieu seiner Kumpane. Misfits. Und überhaupt, derart hautnahe Direktheit und Kontakt des einfachen Volkes zum Göttlichen lag nicht im Interesse der Amtskirche, die zwischen Niederem und Hohen die Mittlerrolle zu behaupten trachtete.
Gott Bacchus, ein schlaffer Knabe, lehnt an einer skandalös schmuddeligen Matratze, die von olympischen Genüssen himmelweit, ja parodistisch weit entfernt scheint. Amor, ein kokett rotwangiges Früchtchen, trampelt provozierend herum auf Violine, Schreibfeder, Zirkel, Globus, Krone, Szepter und Rüstung als den Insignien von Kunst, Wissenschaft und Herrschaft und verhöhnt den Gültigkeitsanspruch des Bildtitels »Omnia vincit amor« angesichts seiner drallen süßen Haut. Sexuell eindeutig, negiert sein nackter Trieb Kulturleistung, Ordnungskräfte und utopische Gesinnung.
Johannes der Täufer, ein von rotem Tuch umflossener Halbwüchsiger, streckt seine matt schimmernden Glieder in grübelnder Schwermut aus. Kein Asket und Prediger der Wüste, der das Volk zur Umkehr bewegt, sondern ein einsam umdüsterter Prophet rebellischer Verlorenheit. Es war deshalb ganz richtig (unabhängig vom biografisch Exakten), dass Derek Jarman in seinem vor 20 Jahren gedrehten »Caravaggio«-Film das Modell des Johannes zum Liebhaber des Malers erklärte, der sein Objekt der Begierde, um es zu porträtieren, mit Goldmünzen füttert, die sich der Ragazzo sinnlich zwischen die Zähne schiebt.
Caravaggio brach mit den Konventionen seiner Zeit, dem Seicento: mit theologischen, sozialen, politischen, ideologischen und ästhetischen. Kein Hofmaler, kein Zunftbruder. Kein Künstler des Mainstream. Ein Einzelgänger. Außenseiter. Radikaler. Die biblischen Bildgeschichten erfahren bei ihm Umdeutungen, er ändert ihre Semantik. Teils lässt sich sein Neuansatz rückführen auf Einflüsse seiner Heimat, der lombardischen und nordalpinen Region, die er ins Zentrum Rom brachte. Hier wie dort nimmt er geistige Strömungen auf, reagiert auf das intellektuell-naturwissenschaftliche Klima, auf kryptoprotestantische, der Häresie verdächtige Ideen, Bestrebungen der Reform-, Volks- und Laienkirche – Konfliktstoffe seiner Epoche der Gegenreformation.
Und er ist ein Streitfall der Kunstgeschichte, die in dem Maler einerseits den Überwinder akademischer Traditionen und Techniken sah und seinen Naturalismus bis zum Vulgären und Blasphemischen hervorhob. Parallel aber versuchte – statt in ihm den großen Säkularisierer zu erkennen –, ihn, seine Gestalten und Gestaltungen der überlieferten abendländischen Allegorielehre zuzuordnen. »Diese Diskrepanz und dieses Nebeneinander zwischen radikal modernen und traditionellen Momenten ist charakteristisch für Caravaggios Ästhetik « (Jutta Held).
Als jemand, der »natürliche Dinge gut nachahmt« (so eine der raren Selbstaussagen), lässt er die Idealität der Renaissance hinter sich. Caravaggio – Überwinder von Giorgione, Michelangelo, Tizian. Er holte sich Modelle ins Atelier und inszenierte sie. Mag dies auch bis zum Klischee kolportiert und dabei kalkulierte Selbststilisierung, methodisches Formbewusstsein und ikonografisch versierte Künstlerschaft unerwähnt sein, so bleibt doch die überwältigende Erfahrung des Zugriffs, die den Bildern entströmende Expressivität, ihre Emotionalität und provokative Individualität, nicht zuletzt dank des legendären Hell-Dunkels. Man betrachte zum Vergleich nur den zeitgleich lebenden, lange bevorzugten süßlichen Guido Reni. Caravaggios Stil hat Schule gemacht, diesseits und jenseits der Alpen. Und doch ist der »Rembrandt Italiens«, wie ihn das 18. Jahrhundert mit dem Namen des 35 Jahre jüngeren Holländers taufte, ein Solitär der Barockepoche. Die Ausstellung im museum kunst palast auf den »Spuren des Genies« gehört zu der von der Landeshauptstadt veranstalteten Quadriennale, die 2006 den »menschlichen Körper« in den Blick nimmt.
Von den unter hundert Werken Caravaggios befinden sich die meisten in Rom und überhaupt in Italien, teils in Kirchen. Deutsche Museen verfügen nur über zwei Gemälde, in Berlin und Potsdam. Zahlreiche Bilder sind in Privatbesitz. Zur fast kriminalistischen Kunst-Recherche aber wird die Frage von »Original und Fälschung«, bedingt auch durch häufige Motiv-Variationen sowie Zweit- und Drittfassungen, fehlende (damals eher unübliche) Signaturen und mögliche fremde Pinselführungen innerhalb seiner Werkstatt. Am Düsseldorfer Ehrenhof wird der komplizierte (offene) Prozess von Original, Zuschreibung, eigenhändiger Replik, Kopie, von diagnostischem Verfahren, wissenschaftlicher Kontroverse – einsetzend 1951 mit Roberto Longhis Mailänder Ausstellung – und »neuen Vorschlägen« (Kurator Jürgen Harten) im Vergleich der etwa 30 Leihgaben dokumentiert. Darunter »Doppelgänger«-Bilder wie »Lautenspieler«, »Johannes«, »Ungläubiger Thomas« und eine »Magdalena«. Nebst Arbeiten der sogenannten »Caravaggisten«, einer Gruppe von ihm beeinflusster Maler aus dem frühen 17. Jahrhundert. Harten gliedert die Schau in Themenbereiche wie »Schauspiele der Sinne«, »Der leibhaftige Christus «, »Folter und Martyrium«.
Caravaggio verführt dazu, Verbindungen zwischen Werk und Leben zu ziehen und besonders den Aspekt der Gewalt zu isolieren. Ein sagenhaft düsteres Leben, bis zum Fieber-Tod am 18. Juli 1610 mit nur 39 Jahren. Michelangelo Merisi da Caravaggio, geboren 1571 nahe Mailand als Sohn eines Baumeisters und einer Dame aus niederem Adel, kommt in die Lehre eines Malers seiner Umgebung – angeblich ein Tizian-Schüler. Nach dem frühen Tod der Eltern begibt er sich mit seinem Bruder um 1592 nach Rom. Gerät in Armut, verdingt sich in den Ateliers etablierter Maler wie Giuseppe Cesari d’Arpino, geht ihnen zur Hand, fertigt Kopien und verkauft eigene Arbeiten auf dem freien Markt.
Bald wird man aufmerksam auf den nicht nur malerisch Eigenwilligen. Weil der unbeherrschte Caravaggio öffentlich einen Degen trägt – Privileg des Edelmannes –, wird er inhaftiert. Es bleibt nicht bei dem einen Mal. Untereinander vernetzte Sammler und Mäzene wie der Kardinal del Monte, der ihn in seine famiglia integriert und sein »äußerst extravagantes Wesen und Benehmen« beschreibt, der Abt Crescenzi, die Marquese Giustiniani und Mattei nebst Bankiers, Finanziers, Juristen – kaum die alteingesessene Elite – lassen ihm Aufträge zukommen. Er beginnt mit profanen Genre-Bildern wie den blumigen Knaben-Porträts, deren Stillleben-Qualität und dramatischer Aufbau sowie deren individuell physiognomische Formung bereits berückend sind, indes die lasziven Posen eine Art barocker Salonkunst zu bilden scheinen. Zugleich aber bergen sie schon die reizvolle Ambivalenz von hoher Künstlichkeit und offensivem Realismus und libertinärer, auch homoerotisch konnotierter Sinnlichkeit. Diese Mischverhältnisse werden in den narrativen Tafel- und Heiligenbildern noch sublimer ausfallen.
Caravaggios aufwiegelnde Subjektivität, ablesbar in der bildimmanenten Zeichensprache etwa beim »Franziskus in Ekstase«, dem »Emmaus-Mahl« oder den Martyrien-Bildern, stößt gegen katholische Lehrmeinung. Formuliert freisinnige Gedanken zur Willenfreiheit, zur Gnadenlehre, zu spirituellen und mystischen und darin extrem ichbezogenen Positionen, die der Autorität Kirche zuwiderlaufen. Nicht Roms Hauptkirchen sind es, für die er arbeitet. Er schafft Wandbilder zur Ausschmückung der Contarelli-Kapelle in San Luigi dei Francesi und der Cerasi-Kapelle in Santa Maria del Popolo. Weder der päpstliche Hof noch die Jesuiten beschäftigen ihn, auch wenn er prominente Gönner hat. Palazzi beherbergen ihn, und in finstere Tavernen treibt es ihn. Der »artiste maudit« zockt, prügelt sich, muss wegen Tätlichkeit und Beleidigung vor Gericht und ins Gefängnis, lässt sich freikaufen, begeht 1606 im Affekt einen Mord, fällt unter den Bann, flieht nach Neapel, wird dort zum Ritter des Malteserordens ernannt, um bald darauf aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Da ist er schon in Sizilien – und sein letztes Lebensjahr angebrochen.
Bei Caravaggio, dem Dramatiker des Lichts, gewinnt die akzentuiert gebrochene Dunkelheit der farbmüden Bilder in ihrer erdigen Palette nicht nur theatralische Funktion. Das Licht zerschneidet und zergliedert die Körper und weist wie ein Zeigefinger auf die zentrale Situation oder Person. Die Lichtspur als Vorform des Richt-Scheinwerfers. Der Maler des Clair-obscur (chiaroscuro) selbst markiert diese Richtung: In seiner »Gefangennahme Christi« mischt er sich als Beleuchter (mit Laterne in der Hand) im Garten Gethsemane unter die Sechser-Schar. Die Methode des gemalten Lichts, die bis in die Geburtsstunden des Films Einfluss ausübt, hebt Figuren wie Reliefs heraus und intensiviert das Gesamtgeschehen. Zudem bietet die Lichtregie Täuschungsmanöver auf – als grandiose bühnenhafte Konstruktion. Entsprechend changiert der kühne Realismus dieses »inventor« (Bilderfinders). Stellt er doch den Illusionscharakter in enthüllender Geste zur Schau. Ist sein melancholischer Johannes nicht jemand, der den Wegbereiter Christi »darstellt«, maskiert für ein tableau vivant? Was sollen wir von seiner Judith halten, die dem Holofernes das Haupt ungelenk, steif und scheu absäbelt, wobei das Blut aus der Halswunde nicht natürlich wie der Lebenssaft fließt, sondern wie ein anorganischer Fremdkörper wirkt? Es ist dieser Kontrast, der Caravaggio auszeichnet: die Kargheit, der Geruch des Plebejischen, die Leidenswürde und ein abstrakt wirkendes Arrangement, wie es sich früh auf dem Bildnis des »Lautenspielers « und später in der »Grablegung« und dem Matthäus-Martyrium mit ihrer Choreografie der Hände und Leiber kundtut. Im Sowohl-als-auch des Künstlers liegt seine Faszination. Da sind die Erregungszustände, die von den letztgenannten Bildern, den »Sieben Werken der Barmherzigkeit« oder der »Erweckung des Lazarus« (entstanden im Todesjahr für Messina) ausgehen. Da sind die gefasste Akzeptanz der Passion und ein verstörender Pessimismus. Und da ist die schockierende Ereignishaftigkeit der Bilder: In dem von Kirchenseite bezahlten und dann (ebenso wie erste Fassungen der »Bekehrung Pauli« und des rustikalen, plumpen »Matthäus mit dem Engel«) abgelehnten »Marientod« liegt ein Weib mit gedunsenem Bauch auf der Bahre, wie es wohl aus dem Tiber gefischt worden sein könnte. Von der Virginität der Madonna bleibt nichts.
Was verursacht Caravaggios Wirkung? In entscheidendem Maß die konzentrierte Aktion, häufig begleitet von Gewalt, Abwehr und Entsetzen. Der Bildaufbau, die physische Präsenz und physikalische Anspannung, die dynamische, impulsive und gedrängte Unmittelbarkeit, die zugleich von komplexer psychologischer Durchdringung zeugt. Caravaggio ist nicht der Maler des Porträts (obwohl es solche gibt). Er ist der Maler plastischer Ensembles. Sein Spannungsgefüge gelingt am besten in Bild-Kompositionen und ihrer Personen-Regie: In den Trios der Salome, des leugnenden Petrus, der »Falschspieler« oder von Abraham, Isaak und Engel macht er uns zu Zuschauern einer emotional aufgeladenen Situation und folgenreichen Konstellation. Vor unseren Augen erstarrt der dramatische Vorgang zum symbolischen Moment. Caravaggio zeigt die Qual der Opfer, Gleichgültigkeit der Folterknechte, brutale Anstrengung des Tötens, das Elende des Sterbens, »das Schicksal der Körper« (Jutta Held), zeigt es in radikaler Diesseitigkeit, von keinem metaphysischen Trost gelindert.
Gott bleibt im Imaginären. Es sind Distanzierungen zum Wundergeschehen. Selbst der siegreiche David-Knabe sinnt schwermütig über den erschlagenen Goliath, den er am Schopfe hält – und der das Antlitz des Leidensmannes Caravaggio trägt. »So rufe man Trauer aus durch die gesamte Natur«, heißt es bei Schiller. Ein Protestruf. Die Realität der Marter steht bei diesem Maler der Abwesenheit von Auferstehung entgegen. Sein »Marientod« lässt kein überirdisches Zeichen zu. Die Apotheose fehlt. Caravaggio verweigert das Heil.
Als würde die Luft angehalten, die Zeit gestoppt, die Einstellung eingefroren. Die Gegenwart wird in ihre Plötzlichkeit und Tatsächlichkeit gebannt. Die Himmel rühmen nicht. Die Erde ist der einzig existente Ort – und die innere Wahrheit des Menschen. Caravaggios Werk hat keine offizielle Glaubensgewissheit, es nährt den Zweifel, betont die meditative Versenkung, artikuliert das Gebeugt-Sein vor dem Schicksal. Seine Salome, die das Tablett mit dem Haupt des Jochanaan in einer Haltung kalt wissender Trauer trägt, neigt sich nach links, wo der Künstler ein Drittel der Bildfläche einfach schwarz ließ: Raum für die nihilistische Leere des Todes. Ähnliches wiederholt die »Erweckung des Lazarus«. Während in einer bewegten Gruppe der zum Leben gebrachte schöne Leichnam mit mehrdeutiger Gebärde auf den ausgestreckten Arm Christi reagiert – halb in Abwehr, halb in Annahme des neu gespendeten Lebenslichtes –, behauptet sich über dem Geschehen die obere Bildhälfte ungefüllt als dauerndes Nichts gegen die gestundete Zeit und Zeitlichkeit. Existenzielle Finsternis, die nur vom Schrecken erhellt wird und das Mängelwesen Mensch beleuchtet. //
museum kunst palast, Ehrenhof, 9. Sept. bis 7. Jan. 2007; Tel.: 0211/8924242; www.museum-kunstpalast.de. Katalog im Verlag Hatje Cantz; in der Ausstellung 24,50 Euro; im selben Verlag erschien als Taschenbuch: »Maler Mörder Mythos« – Geschichten zu Caravaggio, erzählt u.a. von Henning Mankell, Ingrid Noll und Arnold Stadler.