Ein kurzer Trip nach Paris, um sich als Fan im Konzert des Freundes Ornette Coleman verblüffen zu lassen. Wieder zurück nach Ibiza für die tägliche Finger-Gymnastik. Danach nach Hamburg, weil Michael Gibbs Jazzphony Nr. 1 »Europeana« zusammen mit ein paar prominenten Kollegen wie Klaus Doldinger und Markus Stockhausen uraufgeführt werden muss. Eingespielt hatte man sie ja schon vor über zehn Jahren. Tags darauf dann wieder Rückflug nach Ibiza. So geht es immer weiter für Joachim Kühn. Nächste Woche Marokko oder Süd- Korea. Nach einem Zwischenstopp in Leipzig anlässlich einer Bach- Hommage vielleicht mal wieder in die USA – neue Kontakte knüpfen, in Clubs spielen und Jazz-Talente aufspüren.
Seit vierzig Jahren macht dieser Marathonmann das jetzt schon. Joachim Kühn ist ständig in Bewegung und unbeirrt auf Weiterbildungskurs. Wenn es tatsächlich einmal für ein paar Stunden ruhig wird und er nicht in Stimmung ist, an dem von ihm erfundenen »Dimished Augmented System« zu basteln, malt er oder feilt an seinem Saxophon-Spiel. Denn jeder Tag, an dem er nicht irgendwie kreativ sein kann, wäre für ihn ein verschenkter Tag: »Bisweilen muss man sich eben zu seinem Glück zwingen.« Weshalb Kühn auch der Fra ge, ob es nicht zwischendurch wirklich mal hakt und hängt, mit der kürzest möglichen aller Antworten begegnet: »Nein!« Dabei gehört Kühn sonst nicht zu den Mundfaulen. Während Journalisten sich normalerweise von Managern und PR-Dominas langwierig durchleuchten lassen müssen, um überhaupt nur in die Nähe eines ähnlich erfolgreichen Musikers zu gelangen, steht die Leitung nach Ibiza unkompliziert schnell und lange. Dort lebt Kühn seit über einem Jahrzehnt. Nicht in Metropolen wie Paris und New York. Doch den Strand vor der Haustür sieht er selten. Höchstens sonntags und pünktlich zum Sonnenuntergang steckt er mal für fünf, sechs Stunden den Kopf aus dem privaten Aufnahmestudio, um mit Trommlern von der Insel sein momentanes Faible für alles Perkussive und Rhythmische auszuleben. Anzunehmen ist, dass er auch dabei mit unbändiger Spiellust rauschhaft improvisiert. Denn das sind die beiden wichtigsten Markenzeichen des Musikers Kühn, seitdem er die Enge der DDR hinter sich gelassen hat, um in Europa und in den USA den zeitgenössischen Jazz auf neue Füße zu stellen.
»Die DDR gab keine Impulse. Alles kam aus mir heraus«, sagt Kühn heute, vierzig Jahre nachdem er sich entschied, von einem Nachwuchswettbewerb für modernen Jazz in Wien nicht mehr nach Leipzig zurückzukehren. Dort knetete Kühn schon in den ersten Jahren nach seiner Ausbildung zum klassischen Konzertpianisten Anfang der 1960er Jahre mit einem eigenen Trio die Harmonien und Metren nach allen Regeln des Free-Jazz durch. »Früher, als Charlie Parker mit seinem Bebop anfing, war Jazz eine Protesthaltung. Und so habe ich auch mit dem Jazz gegen die DDR protestiert. Aggressivität gehört eben dazu, nicht diese Softy-Lounge-Haltung, der man heute begegnen kann. Heute ist Jazz bei den meisten zum Kommerz-Weichspüler verkommen und höchstens als Background zu gebrauchen. Ich selbst konnte mich davor bewahren. Vor allem dank meines eigenen Systems der ›verminderten Übermäßigkeit‹.«
Was streng nach Jazz-Theorie-Büffeln riecht, entpuppt sich im Praxistest jedoch als äußerst dehnbares und luftdurchlässiges System, dessen Motor schnell in Gang kommt. Strukturelles Denken und spontanes Gestalten werden nicht mehr von traditionellen Formen und Mustern zusammengehalten. In einer Improvisationswelt, in der es kein Dur und kein Moll mehr gibt, sondern nur noch verminderte und erhöhte Akkorde, soll ein einziger Klang unendlich viele Ideen und Möglichkeiten lostreten. Oder ganz einfach so: »Improvisiere auf den Sound, denk nicht drüber nach, denn dann ist es schon zu spät. Und wenn dir nichts mehr einfällt, dann ist das Solo eben zu Ende.« Nach diesem Prinzip, das zur Selbstvergessenheit reizt, ist bei Kühn alles möglich. Mal kann es robust und kantig zugehen. Dann verirrt er sich mit seiner sagenumwobenen Virtuosität scheinbar in neo-romantische Empfindungswelten, in die er polyphone Gitter einzieht, sie dann wieder mit Klangverfremdungen am Klavier aus den Angeln hebt.
Die Tragfähigkeit seiner solistischen Einsamkeit stellt Kühn auch dort unter Beweis, wo er mit unterschiedlichsten Musikern aus verschiedenen Kulturkreisen zusammenarbeitet. Mit dem libanesischen Oud-Spieler Rabih Abou-Khalil und dem französischen Klarinettisten und Saxophonisten Michel Portal etwa, mit seinem Bruder Rolf (»Er ist der beste Klarinettist der Welt – leider wissen das nicht genug Leute.«) oder mit dem Marokkaner Majid Bekkas, »dessen Bass-Spiel mich zurzeit mehr anmacht als dasjenige klassischer Bassisten.« Kaum verwunderlich ist es daher, dass viele dieser Musiker demnächst auch in Essen zu hören sein werden. Bei einer vierteiligen und dem »Artist in Residence« Joachim Kühn gewidmeten Konzertreihe, bei der sein »Dimished Augmented System« gleich im Eröffnungskonzert auf die Probe gestellt wird: in der Suite »Tiefer Sinn macht tiefen Sinn« für Trio, Sprecher und NDR Big Band.
Wenn Kühn schon die einmalige Möglichkeit hat, einige seiner Favoriten einzuladen, darf einer natürlich nicht fehlen: der Alt-Saxophonist Ornette Coleman. Seit 1960 ist er diesem Pionier des Improvisierten Jazz verfallen, nachdem ihm sein Bruder, der gerade aus New York zurückgekehrt war, nicht nur davon erzählt hatte, dass da einer ganz ohne Harmonien spielt. Die mitgebrachte Ornette Coleman- Platte wurde zur Initialzündung für den damals 17-Jährigen. »Man muss den Jazz voranbringen. Aber heute spielen Free-Jazzer immer noch ihren Free-Jazz. Nur Ornette Coleman erfindet sich und den Jazz immer wieder neu. Und von ihm habe ich gelernt, wie man trotz der grassierenden Unterhaltungsmusik weiter am Kunst-Jazz festhält, bei dem man auch ein wenig mitdenken muss.«
Wenngleich Kühn seit der Übersiedlung in den Westen mit vielen Jazz-Größen von Don Cherry über Elvin Jones bis Tony Oxley zusammengearbeitet und sich dabei stilistisch – vom Fusion bis zur Adaption von Weills »Dreigroschenoper« – mehrfach gehäutet hat, blieb Coleman im Hintergrund stets präsent. 1996 kam es schließlich zum lang ersehnten Treffen. Dass ausgerechnet Coleman es war, der Kühn nach dem Konzert auf Johann Sebastian Bach brachte, entpuppte sich rückblickend als eine weitere, wichtige Weichenstellung im Musik-Leben des gebürtigen Sachsen, der daraufhin ein Bach-Projekt mit dem Thomanerchor jenseits des üblichen Bach-Swing-Gedudels initiierte. »Mein Traum wäre es, beide – Ornette Coleman und den Thomanerchor – zusammenzubringen. Aber schon mit meinen Lieblingsmusikern musizieren und reden zu können, war für mich eine Offenbarung. « Dieser Traum mag sich eventuell noch realisieren lassen. Eine andere Wunsch-Kombination von Kühn wird dagegen wohl nicht nur am Terminkalender scheitern: »Mit Mick Jagger würde ich gerne mal ein Unplugged-Album machen. Nur Stimme und Klavier.« Aber vielleicht dringen ja Kühns sonntägliche Trommelsignale tatsächlich mal irgendwann vom Strand von Ibiza bis zu Jagger vor. //
Philharmonie Essen, 10. Oktober, weiter Konzerte im Dezember 2006 und März 2007, www.philharmonie-essen.de