Es ist wirklich unglaublich kühl in diesem riesenhaften Jagdhaus. Obwohl seit ein paar Tagen der Sommer zurückgekehrt ist. Der Weg führt durch ein dunkles Jägerzimmer. Vielleicht ließe sich der Arbeitsraum von Oswald Wiener auch anders erreichen, aber es scheint einer der kürzeren zu sein. Vorbei an vertäfelten Wänden, an Geweihen und den Portraits der Jäger, die hier einst ihre Zeit mit Warten verbrachten. All das wirkt ein bisschen wie eine überdimensionierte Zigarrenkiste. Vom Schreibtisch aus geht dann der Blick hinunter auf den Hubertussee, den Margret Krupp ihrem Mann Arthur, in dessen Besitz das Anwesen einst war, vor hundert Jahren zur Silberhochzeit geschenkt hat. Auf den oberen Etagen befinden sich unzählige Gästezimmer. Sie stehen zurzeit alle leer. Es ist ruhig. Sehr ruhig.
Seit Wieners Rückkehr nach Österreich vor fünf Jahren bewohnt er hier, wenn er nicht in Kanada oder Wien ist, zusammen mit seiner Frau, der Künstlerin Ingrid Wiener, ein paar Zimmer im Erdgeschoss. Ein Freund, der das Anwesen unweit von Mariazell gepachtet hat, stellt sie ihm zur Verfügung. »Sie werden sehen, es ist hier sehr schön«, hatte Wiener das großzügige Szenario schon auf der Fahrt vom Bahnhof zum Jagdhaus untertreibend angekündigt. Doch solle man sich bitte nicht von all dem Überfluss täuschen lassen. Später wird er dann leicht amüsiert erzählen, dass das Haus allein deshalb nicht auf einer südlichen Bergseite errichtet worden ist, damit die Jagdgesellschaft von hier aus das Wild auf dem gegenüberliegenden Hang in der Sonne beobachten könne.
Letztes Jahr, anlässlich seines 70. Geburtstags am 5. Oktober, erschienen in den Zeitungen vereinzelt kleinere Würdigungen von Wieners Arbeiten. Nicht, dass er diese Anerkennung nicht verdient hätte. Ganz im Gegenteil. Bemerkenswert ist das dennoch, weil Wiener seit Jahrzehnten kaum mehr etwas produziert hat, was in den Zuständigkeitsbereich des Feuilletons fallen könnte. Mehr als ein halbes Jahrhundert ist es her, dass Wiener mit 18 Jahren, gerade mal die Matura hinter sich, als jüngstes Mitglied zur »Wiener Gruppe « kam, zu deren innerstem Kern neben Wiener auch die »Sprachingenieure« Gerhard Rühm, Friedrich Achleitner und Konrad Bayer zählten. Eine Gemeinschaft von Schriftstellern, die – wenn man Rühms Rückschau Glauben schenken darf – weniger durch ein Programm, als durch persönliche Sympathien und heftige gesellschaftliche Ablehnung zusammengehalten wurde. Ende der 50er Jahre wendet sich Wiener dann zum ersten Mal von der Kunst ab, vernichtet alles bis dato Geschriebene, weil er Literatur für »Humbug « hält. Er heiratet und tritt als Handelsvertreter in die Firma Olivetti ein, die damaligen Gerüchten zufolge an der Entwicklung eines Computers arbeitete. »Die Literatur schien mir für mein Leben unbrauchbar«, sagt er rückblickend, mit zumindest dem Anschein nach distanziertem Interesse für den Mann, der er einst gewesen ist. »Ich folgte dabei einem Prinzip, das nicht sonderlich originell ist, das mir aber in meinem Leben sehr geholfen hat: Mach dort weiter, wo es Dir weh tut. Wenn Dich ein Edelstein verzaubert, schlag’ mit dem Hammer drauf!«
Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass Oswald Wiener bei seiner Lebensplanung in die Werkzeugkiste greift.Schmieröllieferant für die Maschine Literaturbetrieb wollte Oswald Wiener zu Zeiten der »Wiener Gruppen« nicht sein und es später auch nicht werden. Höhere Literatur »fangt für mich dort an wo einer schreibt weil er sich selbst etwas klar machen will was er noch nirgends sonst findet« lässt Wiener einen nicht näher bezeichneten Österreicher namens »O.« 1979 in einer kleinen »Plauderei über höhere Literatur« sagen. Umgekehrt gilt, dass einer aufhört, »höhere Literatur« zu verfassen, wenn die seiner Neugierde einfach nicht mehr die nötigen Instrumente bereitzustellen vermag. Denn Literatur, so kann man in Wieners kompromisslosen Essays wiederholt nachlesen, scheine ihm »nur mehr beachtenswert, insofern sie sich dem großen, dem einzigen Thema unserer Epoche zuwendet: dem Begreifen der elementaren Mechanismen des Verstehens.«
Dabei hat Wiener in seinem 1969 erschienenen Erstling »Die Verbesserung von Mitteleuropa, Roman« noch versucht, sich mit dem eigenen Denken innerhalb einer vermeintlich klar definierten literarischen Form auseinander zu setzen. Hat »Indizienbeweise aus dem Sprachgefühl« heraus gesammelt, um dem Ordnungsinstrument Sprache vom Standpunkt des Individualanarchismus aus den Prozess zu machen. Genauso wie dem Roman. Allein schon die im Titel reklamierte Zugehörigkeit zum Genre musste der uninformierten Leserschaft damals als Provokation erscheinen. Setzte Wiener sich doch mit unerbittlicher Souveränität über alles hinweg, was sonst so unter dieser Gattungsbezeichnung verlegt wird. Wenn ein gewisser »Schiller« in der »Verbesserung« anmerkt, er verstehe immer nur ein Viertel von dem, was »Ossi« sagt und dieser dem noch in Klammern »wie du, verkommener bankert, der du hier schmökerst« hinzufügt, so ist das bei aller Geringschätzung der geneigten Leserschaft noch immer eine reichlich optimistische Annahme. Viel mehr noch irritiert aber das Wort »schmökern«, denn davon kann nun wirklich nicht die Rede sein. Was keineswegs heißen soll, dass die »Verbesserung« nicht auch ein auf intelligente Weise komisches Buch ist. Niemand wird also ernstlich behaupten können, Oswald Wiener hätte es nicht versucht mit der »höheren Literatur«. Merkwürdigerweise hat es Jahrzehnte gebraucht, bis Wiener dafür auch jene Anerkennung zuteil geworden ist, die sich in Preisen ausdrückt. Zwanzig Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen seines Romans wurde ihm der »Große österreichische Staatspreis für Literatur« verliehen. Am Tag nach diesem Besuch sollte nun als bislang letzter der Manuskripte- Literaturpreis folgen. Zur Preisverleihung, erzählt Wiener, werde auch der Mariazeller Männergesangsverein anreisen, der am Tag zuvor mit ihm im Jagdhaus ein von Wiener komponiertes Stück geprobt hat. Und fügt hinzu: »Seien Sie unbesorgt. Es wird eine schräge Sache werden.«
Warum ihm aber jetzt diese Ehrung zuteil wird, weiß auch Wiener sich nicht wirklich zu erklären. Wenn nicht mit dem Hinweis, dass er nicht unwesentlich zur Bekanntheit der gleichnamigen österreichischen Zeitschrift für Literatur beigetragen hat, indem er ihr in den 60er Jahren den Vorabdruck der »Verbesserung« überließ. Das hat ihnen den Vorwurf der Pornographie, die damit verbundene Aufmerksamkeit und ein Verfahren eingebracht, das erst zwei Jahre später eingestellt worden ist.
Zu Wieners jüngeren unter den raren Veröffentlichungen zählen das Bändchen »Probleme der künstlichen Intelligenz« (1990), eine »Einführung in die Theorie der Turingmaschinen « (1998) und ein Sammelband mit erkenntnistheoretischen Schriften (1996), die sich dem »Kambrium der Künstlichen Intelligenz« oder »Form und Inhalt in Organismen aus Turing-Maschinen« annehmen. Allein 1990 hat Wiener noch einmal einen umfangreicheren literarischen Text herausgebracht, um die Gesetzmäßigkeiten des literarischen Marktes auf die Probe zu stellen. Unter dem Pseudonym Evo Präkogler veröffentlichte er als fiktiver Herausgeber unter dem Titel »Nicht schon wieder…!« eine »auf einer Floppy gefundene Datei«: Notizen eines nach einem »Selbstentleibungsversuch« verstorbenen und wieder ins Leben zurückgekehrten österreichischen Beamten namens Zdenko Puterweck. »Ich wollte, sagt Wiener, dass das Buch untergeht, dass es verramscht wird. Ein paar Jahre später hätte ich dann mit ein paar Freunden hier und da in den großen Tageszeitungen Artikel darüber geschrieben, um daraus einen Seller zu machen.« Abgebrochen wurde die Versuchsanordnung mit dem »Schundroman für anspruchsvollere Leser« frühzeitig von seinem damaligen Verleger, der »den ersten Kritiker, der ihm über den Weg gelaufen ist«, geflüstert hat, dass der Verfasser des Buches Oswald Wiener heiße. Seitdem hat Wiener nicht nur mit dem Verleger gebrochen, sondern auch die Literatur vermutlich endgültig hinter sich gelassen. Zumindest sind keine weiteren Versuche in diese Richtung bekannt. Als Schriftsteller würde er sich ohnehin nicht mehr bezeichnen. Auch lese er kaum noch derartige Bücher, sagt Wiener. Um so erstaunlicher aber ist, dass er über all die Jahrzehnte, in denen er die – Schöngeistern nur schwer zugänglichen – Wissensgebiete Kybernetik, Mathematik, Kognitionswissenschaft, Automatentheorie und Selbstbeobachtung durchpflügt hat, der kunsttheoretisch interessierten Öffentlichkeit nie ganz verloren gegangen ist. So wie es der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer vor mehr als dreißig Jahren in einem poetischen Portrait Wieners phantasiert hatte: »Er steht indessen in der Mitte des Hofs, allein, im Treibsand, den der immer heftiger werdende Wind vor sich herbläst. Unbeweglich steht er da, den Blick auf den Horizont gerichtet. Der Sand staut sich an seinen Füßen, dann geht er ihm bis an die Waden, dann bis zu den Knien. Er schaut um sich herum. Der Wind heult, und der Sand wächst höher.«
Als Widmer Wiener im Treibsand versinken ließ, hatte der das Ärgste bereits hinter sich, wohnte seit ein paar Jahren in Berlin, wo er zusammen mit seiner Frau und einem Freund eine Art Wiener Kaffeehaus betrieb, für dessen Tapeten Dieter Roth verantwortlich zeichnete. Dorthin war er 1969 ausgewandert. Nachdem er, mittlerweile Direktor der Datenverarbeitungsabteilung, gegen den Olivetti-Generaldirektor auf einer Weihnachtsfeier handgreiflich geworden war, daraufhin die Firma verlassen musste und sich wieder der Kunst annähern konnte. Was zu dieser Zeit immer auch hieß: das Niveau öffentlicher Erregung möglichst hoch halten.
Bis er dann eben aus Österreich »herausgeeitert « ist, wie Wiener selbst es nennt. Jahrelang war Wiener nicht im Besitz eines gültigen Personalausweises, da er in seiner Heimat wegen sexueller Belästigung einer Minderjährigen auf der Fahndungsliste stand. Die hatte ihn in der einschlägigen Kartei zwar nicht identifiziert, doch wollte sie auf die insistierenden Nachfragen der Beamten hin eben auch nicht ausschließen, dass er es hätte gewesen sein können. Zu unrecht, wie sich später herausstellen sollte. Doch war Wiener den Behörden seit geraumer Zeit moralisch verdächtig. Sein Bild fand sich in dieser Kartei allein deshalb, weil er als Initiator der Aktion »Kunst und Revolution« am 7. Juni 1968 – bei der sich einige der Aktionisten in einem Hörsaal der Universität Wien öffentlich entleerten, sich mit Exkrementen einschmierten und noch manch anderes Kunststück zeigten – die Zuhörer aufgefordert haben soll, »in den Stephansdom zu scheißen.« Auch das hat er nicht gesagt, dennoch Wochen in Untersuchungshaft verbracht.
Ende der 60er Jahre habe er am Rande einer Paranoia gestanden, sagt Wiener. Ergänzen muss man: und in einem Staat gelebt, dessen Polizei nicht gerade zimperlich umgeht mit Menschen, deren Vorstellungen von Lebensintensität nicht immer vereinbar sind mit einem bürgerlichen Leben. Was zusammengenommen eine Menge unheimlicher Geschichten ergibt. So erzählt Wiener dann von willkürlichen Polizeivorladungen, davon, wie ihn Kriminalpolizisten verfolgen, um ihn just an dem Tag, an dem sein befristeter Führerschein abgelaufen ist, ohne Fahrerlaubnis am Steuer seines Wagens zu erwischen. Dass er sich permanent beobachtet fühlte, weshalb Wiener gelegentlich eine Stahlrute dabei hatte, wenn er aus dem Haus ging. »Alles, was ich in der ›Verbesserung‹ geschrieben hatte, habe ich erlebt: wie die Sprache mich angreift, wie mir langsam die Wirklichkeit weg bricht. Allerdings habe ich es erlebt, nachdem der Roman beendet war.«
Gleichwohl vollzieht sich diese Wirklichkeitszersetzung im Roman als durchaus ambivalente Versuchsanordnung. Dort trennt ein so genannter Bio-Adapter das menschliche Bewusstsein Schritt für Schritt von dessen Körper und Umwelt ab, um dann auch noch das Nervensystem selbst zu ersetzen, so dass am Ende die Kontinuität des Ich-Bewusstsein sallein durch die »Konstanz der Information« gegeben ist. Wieners erste ernsthafte literarische Version dessen, was später den Namen Cyberspace erhalten sollte, annoncierte sich selbst als die »chance unseres jahrhunderts: befreiung von philosophie durch technik.« Es ist wohl nicht zuletzt diese Vorabbesichtigung zukünftiger künstlicher Paradiese, die Wiener eine kleine, aber hartnäckig anhängliche Leserschaft beschert hat und den fast schon legendären Ruf, seiner Zeit ein Stück voraus zu sein. Was auch daran liegen mag, dass sein Programm, das er sich nach Beendigung des Romans verordnet hat, unter grober Missachtung jeglicher Feinheiten gern als naturwissenschaftlich inspirierte Bilderstürmerei im ohnehin schon reichlich ramponierten Tempel der Bewusstseinsphilosophie zusammengefasst wird. Daran stimmt zweifellos, dass Wiener mit dem Begriff »Bewusstsein« nicht mehr viel anfangen kann. Doch dann wird es kompliziert. »Mich interessiert, wie man das menschliche Denken beschreiben kann. Das versuche ich mit der Automatentheorie. Wenn mir das gelingt, dann heißt das, dass das menschliche Denken nicht restlos mechanisierbar ist. Was aber nicht bedeutet, dass die Begründung dafür in so etwas wie ›Freiheit‹ zu suchen wäre. Es geht schlicht um Zufall. Dass wir nicht vorhersagen können, was wir vorhersagen möchten, liegt daran, dass wir zu wenig Informationen haben.« So gibt Wiener Einblick in sein gegenwärtiges Forschungsfeld, spricht von einer Verteidigung der Vielfalt menschlichen Denkens mit Mitteln der Automatentheorie, von funktionalen Äquivalenten und von der Faszination, die damals, als er den »Bio-Adapter« schrieb, für ihn von dem Gedanken ausging, dass der Mensch nicht zwischen simulierten und wirklichen Welten unterscheiden könne, »dass man mit ein paar Federstrichen das Echte kaputt machen konnte.« Natürlich hätte der Besucher irgendwann mit gebotener Emphase ausrufen können: »Wohl dem, der seine Grenzen nicht kennt!« Doch das ging nicht. Denn unten im Tal funkelte das Hochzeitsgeschenk namens Hubertussee so schön in der Sonne. //
Ensuite Oswald Wiener, 23. bis 26 Oktober 2006 im Literaturhaus Köln www.literaturhaus-koeln.de