Es sind Geschichten mit einer abbrechenden Linie, einer Spur, die schwindet, sei es in der Vergangenheit, sei es im Künftigen. Sie sparen das Entscheidende aus, das dadurch nur umso kenntlicher, beklemmender oder bewegender hervortritt. Die Erzählungen, zwölf an der Zahl, eine so gut wie die andere und jeweils kaum länger als zwanzig Seiten, leben von der Auslassung, weil eigentlich alles gesagt oder getan ist – unabänderbar: eine Familie zerbrochen, eine Bindung gelöst, eine Ehe beendet, ein Verrat begangen, ein Traum ausgeträumt, ein Leben beschlossen. Der Tod muss nicht mehr beim Namen genannt werden. Die Einsamkeit und Leere, die er hinterlässt, steht in den Räumen. Es ist wahrlich nicht die geringste Qualität dieses Schriftstellers, dass er auf solch bedachtsame, Achtung gebietende Weise vom Letzten zu sprechen und ein Verstehen jenseits der Begriffe zu erfassen vermag.
Rothmann hat für die Konsequenz von Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben und die nichts preisgeben wollen, seit jeher große Sympathie. Seine Helden sind schweigsam, in gewisser Weise für alle Zeit unter Tage. Kulturbürger, Intellektuelle, Geschmackssichere interessieren ihn nicht. Handlanger, Aushilfen, Arbeitslose, Studenten, Kneipiers, Leute in Wohnungen, die nach feuchten Wänden und Kohleöfen riechen, betrachtet er als sein literarisches Milieu. Ihre Umgangssprache kennt er, die manchmal zurückkehrt zum Vokabular der Elterngeneration, die längst aus der Mode geratene Wörter wie »Kaventsmann« und Floskeln wie »Philippi am letzten« benutzt hat.
Alle Geschichten handeln vom Verlust, viele von der Liebe und vom Tod, und was das eine für das andere bedeutet, und vom Altern, das damit beginnen kann, dass einer jemand anderen sterben sieht. Seltener ist von der Jugend zu lesen, aber immerhin noch ein paar Mal. Dann nimmt der Autor die Perspektive derer ein, die auf fertiges Leben schauen. Fertig heißt nicht: gesetztes, etabliertes Leben, vielmehr glückloses, enttäuschtes, um sich selbst betrogenes.
Rothmanns Figuren – ob es sich nun um Jungen oder Mädchen, Männer oder Frauen handelt, in die er sich Ich-sagend hineinversetzt – sind Isolierte. Und so sitzen sie und halten die Wacht, an Nacht- und Liebeslagern, Kranken- und Totenbetten. Aus der Erfahrung der Absonderung entwickeln sie ihr Gespür; aus ihr heraus registrieren sie die Anwesenheit der Tiere. Ihnen gibt Rothmann in dem Band »Rehe am Meer«, Fortsetzung seiner 2001 erschienenen Erzählungen »Ein Winter unter Hirschen«, ohne symbolische Überlastung eine Bedeutung und Deutung, die denen Rilkes und Canettis, wohl gar der biblischen Botschaft nicht ganz fern liegt: das Tier als reines Sein. Das Wort »heilig« kommt einem in den Sinn, aber so zaghaft, als müsste man Rothmann dafür sogleich um Verzeihung bitten. Aber immerhin schreibt er selbst »Tiere sind die Schatten unserer Seele – und die Seele unseres Schattens«. Tiere öffnen hier die Sinne für die Stille hinter der Stille. Daher fällt der Blick auf Spatzen, die in einer Pfütze baden, auf hoch fliegende Schwalben, auf die »hauchgrauen« Schatten von Rehen, die sich an einem winterlich vereisten Strand einfinden, auf Lamas, die aus einer Zoo-Klitsche ins Freie geführt werden. In eine Freiheit, auf deren Dauer sich nicht viel wetten ließe, die aber für eine kurze Weile da ist, während der die Lamas als »stolze Umrisse vor der blauen Nacht« stehen. Wer weiß, ob man mehr verlangen kann.
In den Geschichten mit Trauerrand glimmt einmal noch das junge Licht von Rothmanns Jugend in Schleswig (»Mein zweibeiniger Bäcker«), und eine wendet sich zurück in das Land von Milch und Kohle (»Der ganze Weg«); ansonsten temperiert sie die Hitze und Kälte Berlins in West und Ost mit seinen gestaffelten Wohnblocks und beengten Verhältnissen. Steht aber einmal in der Landschaft ein Haus, das mehr hermacht, »ein einstökkiger weißer Kubus mit Dachterrasse«, so ist es verlassen von seinen Bewohnern und wird zum Verkauf angeboten. Und heißt eine Stadt Glücksburg, so geschieht in ihr ein Unglück. Der Titel einer Erzählung bringt die Grundstimmung der Sammlung auf den Begriff: »In tiefster Trauer«. Noch deutlicher sagt es ein anderer: »Gethsemane«.
Vielleicht ist es mit Rilke und der Bibel doch nicht so verkehrt.
RALF ROTHMANN: Rehe am Meer; Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2006, geb., 213 S., 19,80 €