Namenszauber. Marianne heißt in Ingmar Bergmans »Wilde Erdbeeren« aus dem Jahr 1957 die von Ingrid Thulin gespielte Schwiegertochter des alten Professors Isak Borg. Marianne heißt später die Frau in »Szenen einer Ehe« und in dessen Fortsetzung »Sarabande« von 2003, darin sich das getrennte Ehepaar Marianne und Johann nach 32 Jahren wieder trifft. Auch die Frau in »Treulose« heißt Marianne, Marianne Vogler (der Nachname ist identisch mit dem der Patientin in »Persona«). Von Beruf ist sie Schauspielerin.
Eine Person namens »Bergman« setzt sich in »Treulose« selbst ins Rampenlicht: als Beichtender, der zugesteht, dass ihn »die Wirklichkeit auf Tod und Leben, die ich so erfolgreich examiniert und gemieden habe, eingeholt und stumm gemacht habe«, und als Beichtvater, Analytiker, Spielmacher, der sich als »Kurzweil vor dem Tod« dieses Drama ersinnt. Und ein gesetzmäßig seinen Gang nehmendes Verhängnis kreiert, indem er das »Nahbild« personaler Konstellationen, Konflikte und Konfrontationen zwischen bürgerlicher Gediegenheit und Künstler-Bohème entwickelt. Marianne ist verheiratet mit dem Dirigenten Markus, sie haben eine Tochter, Isabelle. Der gemeinsame beste Freund David, ein Regisseur, wird – obwohl es Marianne an »Katastrophenbereitschaft« mangelt – ihr heimlicher Geliebter, bis die Ehe zerstört, Markus tot und die Lebenden im Unglück sind.
Die »Lebenskatastrophe« vollzieht sich nicht als szenisches Geschehen, sondern gesprächsweise. »Bergman« und eine »Stimme«, die sich Marianne als Objekt und Subjekt einverleibt, konstruieren und reflektieren Beweggründe des Ehebetrugs, behaupten das Eigenständige der Kunstfigur gegenüber ihrem Erfinder, der ebenfalls eine Kunstfigur ist, und schaffen die Bedingungen, unter denen die Session stattfindet, die sich auf die Kommentarebene begibt und wie eine Probe zu einem Stück aus dem Geist Pirandellos abläuft.
»Dieser Mensch, Filmregisseur, hat wie kaum jemand anderer, vielleicht sogar als einziger in der Welt über die enschliche Natur so viel zu sagen gewusst wie Dostojewski oder Camus.« Krzysztof Kieslowski
»Alles kann geschehen, alles ist möglich und wahrscheinlich. Zeit und Raum existieren nicht. Auf einem unbedeutenden Grund der Wirklichkeit spinnt die Einbildung weiter und webt neue Muster.« Mit diesem Passus aus Strindbergs »Traumspiel«, vorgelesen von Helena Ekdahl, der imponierenden Matriarchin und Großmutter von »Fanny und Alexander«, endet Bergmans letzter großer Kinofilm.
Als »Phantasiespiel« wird »Treulose – Partitur für ein Bildmedium« vorgestellt, zu dem sich zwei Menschen miteinander verabreden. Das Theater verlangt nach Festlegung: Ohne Regel kein Spiel.
Bergman hat bis in die Titel seiner Filme hinein stets das Motiv des Spiels variiert: von »Abend der Gaukler« bis »Aus dem Leben der Marionetten«. Das Spiel gibt Sicherheit – und lässt die Dinge offen. Der Spielmacher als Gott. Ein wüster wilder Gott, der in »Fanny und Alexander«, dem auch literarisch grandiosen Familienepos des Goethe-Preisträgers Bergman, an Fäden hängt und in Donner und Dunkel aus der Requisitenkammer als biblischer Jehova hervorkommt, um ein Kind zu erschrecken und dann in sich zusammen zu sinken. Gott ein Theatercoup aus dem Fundus. In der Kirche wird Gott erst recht nicht gefunden. Dort herrschen Männer wie Bischof Vergerus, die im Höllenfeuer brennen müssen.
Der Protestant Bergman sei, so hat ihn Ingrid Thulin beschrieben, »part devil, part man, with a touch of what you might call heaven«. Der traurige Gott. Bergman, der bereits vor einem halben Jahrhundert auf einem Foto mit seiner schon damals obligatorischen Baskenmütze mit dem Rücken zur Kamera in einem Korbstuhl auf einem Steg am Wasser sitzt und einsam hinaus auf die See schaut, wurde zum alten Mann auf der Insel Farö. Doch auch seit »Fanny und Alexander« von 1981/82 schweigt er nicht, wie es Krzysztof Kieslowski beklagte (»Das Schweigen von Bergman schmerzt wie der Tod von Fellini, die Abwesenheit von Buñuel und Tarkowski…«). Er führte noch Regie am Theater, drehte fürs Fernsehen und schrieb weiterhin seine Geschichten so wie 1997 »Treulose«, gewidmet »Lena und Liv«.
Die Uraufführung am 15. Dezember am Düsseldorfer Schauspielhaus mit Esther Hausmann als Marianne kam dank des Regisseurs Oliver Reese zustande, der vor einigen Jahren bereits Bergmans Roman »Einzelgespräche« dramatisiert hat und damals mit dem scheuen und strengen, abgeschieden lebenden Künstler Kontakt hatte, um ihn zur Freigabe des Textes zu bewegen.
»Part devil, part man, with a touch of what you might call heaven.« Ingrid Thulin über Bergman
Die Düsseldorfer Fassung wird den Rahmen zerschlagen und die »Stimme« löschen. Der Dramaturg Thomas Jonigk sieht in der Anwesenheit des Dichters im Spiel ein »betuliches Bühnenmittel«; zudem zöge es eine zusätzliche Distanzierungs-Ebene ein. Dass in »Treulose« die Zeitschichten ineinander greifen, es keine auch nicht emotional linear klare Struktur gebe, dass »Traumlogik herrscht und die Figuren sich aus der Erinnerung selbst gebären«, müsse das Spiel selbst direkt freilegen und vollziehe sich schon durch die wechselnden Momente von Epik und Dramatik. Der Bergman-Bewunderer Jonigk in emanzipatorisch vielleicht notwendigem Drang: »Man muss sich vom großen Bergman befreien. Es wäre sonst die reine Lähmung.«
Der Beziehungs-Spezialist Bergman setzt seiner Partitur ein Motto des Paar-Experten Botho Strauß voran, in dem dieser die Trennung als an den »Ursprung aller Ängste« rührend deutet. In einem frühen Interview von 1968 gab Ingmar Bergman zu Protokoll, dass, gäbe es »eine Partei für Menschen in Angst«, er sich ihr anschließen würde. Angst aber funktioniere bei Bergman, formuliert Thomas Jonigk, »nicht als Neurose, sondern als Motor«.
»Treulose« bietet nichts als Gespräche, Gesten, Gesichtsausdrücke – mehr braucht es nicht, um zu zeigen, was Menschen aneinander antun können. Bergmans radikale Einfachheit, die Intensität und Suggestion, die bei ihm vom puren Gesicht in Großaufnahme ausgeht, hat Bestand gegenüber jedem Zweifel, der sich an der angeblichen Unmodernität seiner rigiden expressiven Bildästhetik und seinen Negationen, der nihilistischen und existenzialistischen Weltsicht der fünfziger und sechziger Jahre festzumachen glaubt.
Es lässt sich nicht sagen, was in »Treulose« richtig oder falsch ist. Die Menschen folgen ihren Bedürfnissen. Am Ende sind alle gescheitert, gezeichnet, versehrt. Hier macht sich das Hauptinteresse Jonigks an dem Text fest: als Untersuchung des »Konzepts Zweierbeziehung, das sich immer beklemmender und als eine einzige Überforderung darstellt«. Es führe, obgleich die Sehnsucht danach existiert, in »die Sackgasse der Romantik«.
Die antiidealistische Aufrichtigkeit des Autors Bergman, der Filme »schreibt«, kennt keine Rücksichtnahme gegenüber sich selbst und seinen Figuren. »Rücksichtnahme ist Grausamkeit, die man nicht gewollt hat«, sagt jemand in »Wilde Erdbeeren«. Niemand unter den Regisseuren des Weltkinos weiß mehr über die Lüge, den Verrat und die Verletzung, die Schande und die Scham, den Tod, das Begehren, die Liebe und den Hass, der als zersetzende Produktivkraft wirkt. Bergman zeigt alles, häutet seine Figuren, aber lässt ihnen ihr Rätsel. Niemand hat den Körper (vor allem den der Frau) rigoroser entblößt und die Psyche im Physischen frei gelegt.
Beziehungszauber. Immer wieder kreuzen dieselben Namen Bergmans Werk, Marianne, Johan, Isak, Alma, Sara, Vergerus und andere mehr. Wie Echos drängen sie aus Bergmans Lebens- und Erinnerungsraum. Wiedergänger. Vielleicht weil seine Kunst »ein Spiel, nicht weit weg von der Kindheit« ist, ihren Mythen und magischen Möglichkeiten. Das Staunen des Jungen Ingmar steht am Beginn – und bleibt ihm bis ins Alter. »Das Kind spricht vor, der Mann schreibt mit«, notierte ein anderer, Julien Green, 1934 in seinem Tagebuch. Da ist Bergman, Pfarrerssohn aus Uppsala, 16 Jahre alt. Er wird zum Theologen, Mystiker, Erotiker des Films.
Die Technik des Kino- und des Seelenapparates und ihrer beider Erinnerungsarbeit sind die Schlüssel, mit denen sich sein Werk öffnet. Mit dem Rattern des Projektors, der bewegte Bilder produziert, und dem Blick eines Knaben beginnt 1966 »Persona«. 15 Jahre später schaut der junge Alexander Ekdahl durch die Schattenwürfe einer Laterna Magica und entdeckt die Welt. »Laterna Magica« heißt Ingmar Bergmans Autobiografie im schwedischen Original. Das Buch endet mit einem Zitat aus dem Tagebuch von Bergmans Mutter vom Juli 1918, dem Geburtsmonat Ingmars. Da heißt es trocken protestantisch am Schluss: »Ich bete zu Gott, aber ohne Zuversicht. Man muss schon selbst zurechtkommen, so gut man kann.«