Interview: Andrej Klahn
Sebastian B., der sogenannte Amokläufer von Emsdetten, stellte kurz vor seiner Tat vier Videos ins Internet. Auf einem sind er und ein Freund mit Waffen posierend und mit Sprengsätzen hantierend zu sehen. Sie tragen Kampfstiefel und schwarze Kleidung.Unterlegt ist diese Inszenierung mit dem Lied »Die, Motherfucker, Die« der Gruppe Dope. Ähnlich ausgestattet ging Sebastian B. am 20. November in die Schule, um der ›Scheiße ein Ende zu machen‹, wie er in seinem Tagebuch am 13. November notiert hatte. Eine derartige Selbststilisierung ist nicht beliebig. Zudiesem Schluss kommt, wer ähnliche Taten der jüngsten Zeit vergleicht. Zum Muster des »Schulmassakers« gehören: Metal-Musik mit gewalttätigen Texten, schwarze Mäntel und martialische Waffen. Auch die Täter in Littleton, Erfurt oder Montreal inszenierten sich auf ähnliche Art. Auch diese Jugendlichen folgten Codes und Vorbildern.
Wenn das so ist, stellt sich die Frage, ob die Bezeichnung »Amok« diesem Phänomen überhaupt angemessen ist. Meint sie doch einen spontanen, willkürlichen und nicht provozierten Ausbruch gegen Unbeteiligte.Tatsächlich lässt sich seit einiger Zeit in der öffentlichen Auseinandersetzung mit den (versuchten) Massakern beobachten, dass sich die Trennschärfe der Unterscheidung zwischen Attentätern und Amokläufern zunehmend aufzulösen scheint. Läuft tatsächlich Amok, wer seine Tat im Internet ankündigt,vorsätzlich in eine Schule stürmt, um dort ein Blutbad anzurichten? Offensichtlich sind die beabsichtigten Massaker doch an einen bestimmten Adressaten gerichtet und keineswegs nur ein Ausbruch von blindwütiger, motivloser Gewalt.
»Alle Attentäter sind Nachfolger prominenter Vorgänger, deren Bild sie vor Augen haben.« Dies behauptet Manfred Scneider, Professor für Neugermanistik, Ästhetik und Medien an der Ruhr-Universität in Bochum, weniger mit Blick auf die sogenannten Amokläufer als auf den modernen Attentäter. Seit Beginn der 80er Jahre beschäftigt sich Manfred Schneider mit dem Thema »Attentat«. »Kritik der Paranoia« lautet der Titel der Studie, die die Ergebnisse dieser Arbeit zusammenfassen und bei Hanser erscheinen wird. Im Mittelpunkt steht dabei nicht zuletzt auch die Wirkung, die Bilder und Verhaltensmuster für den modernen Attentäter haben.
K.WEST: Die jüngste Geschichte der Bundesrepublik zeigt, dass viele der zuletzt verübten schlagzeilenträchtigen Attentate von psychisch kranken Menschen begangen wordensind. Die berühmtesten Beispiele sind AdelheidStreidel, die Oskar Lafontaine mit einem Messer verletzte, oder Dieter Kaufmann, derauf Wolfgang Schäuble geschossen hat. Ist der Attentäter in den westlichen Demokratien nur noch als psychisch Kranker denkbar?
SCHNEIDER: So werden diese Täter gemeinhin eingestuft. Das aber ist ein Problem, weil dadurch einer politischen Interpretation des Attentats der Boden entzogen wird. Will man aber diese Täter ernst nehmen, dann muss man sie dem zurechnen, was ich die »Pathologie des Politischen« nenne. Das heißt: die »Verrücktheit« ist nicht nur das Symptom dieser Einzeltäter, sondern die verrückten Täter sind selbst Symptome des Politischen.
K.WEST: Was bedeuten diese Symptome?
SCHNEIDER: Diese Täter lassen sich auch als Personen betrachten, die zwar eine paranoische Wahrnehmungsstruktur haben, aber gerade durch ihre extremistische Weltsichtetwas zum Ausdruck bringen, was viele von uns in weniger extremer Form auch denken. Diese Attentäter sind Prototypen einer Gesellschaft, die das politisch Sichtbare unter Täuschungsverdacht stellt. Wir glauben, dass die Politik uns in den Medien nur eine trügerische Außenseite zukehrt, während das Entscheidende in den »Hinterzimmern der Macht« passiert. Das ist unser alltäglicherkollektiver Wahn. In milderer Form drückt sich der Wahn auch in der Feststellung aus,Gerhard Schröder sei ein Medienkanzler. Die politische Paranoia mag nicht daran glauben, dass die Dinge so trivial sind, wie sie sich zeigen. Sie glaubt, dass in den »Eingeweiden der Macht«, wie Elias Canetti sagt, noch einmal Eingeweide verborgen sind.
K.WEST: Dieser Verdacht ist gänzlich unbegründet?
SCHNEIDER: Als prinzipieller, dauernder Verdacht gewiss. Wir alle können aber nicht von uns weisen, dass wir aus Prinzip misstrauisch sind, ob das Spiel auf der politischen Bühne auch echt ist. Es ist natürlich nicht echt,aber jenseits dieses medial durchleuchteten Raums, wo die unechten Gesten und das politische Theater stattfinden, existiert nichts. Da die Macht tatsächlich immer mächtiger wird, können wir uns nicht vorstellen, dass sie so trivial und alltäglich ist, wie sie sich zeigt. Deswegen schauen wir auf jedes Stirnrunzeln und auf jeden Schweißtropfen der Politiker: Sie sind die Nahrung für unseren Verdacht, dass da noch ein Geheimnis ist.
K.WEST: Unterliegen Attentate Konjunkturen?
SCHNEIDER: Blickt man in den Nahen Osten oder nach Afghanistan, dann könnte man zu dieser Ansicht gelangen. Dort ist das Attentat Element einer sehr effektiven politischen Strategie. Mich interessiert der Einzeltäter. Da lässt sich feststellen, dass dieser Typ seit Beginn des 19. Jahrhunderts immer häufiger auftritt,weil um diese Zeit die Voraussetzungen für das moderne Attentat entstehen. Seit dieser Zeit treten die Mächtigen über mediale Vermittlungin die Welt des Publikums und der potenziellen Täter hinein: Zeitungen, Fotos,Illustrierte, Wochenschauen, TV rücken das Bild der Mächtigen vor aller Augen. Ihr Bild zieht die Dolche der Attentäter an. Auf der anderen Seite wird das Politische transparent. Bis zu Beginn des 19. Jahrhundert wurden politische Entscheidungen in einem geschlossenen Raum getroffen. Wenn die Träger der Macht in der Öffentlichkeit auftraten, dann in repräsentativer Funktion. Die modernen Staaten haben aber ihr repräsentatives Außen abgeräumt. Plötzlich werden Entscheidungsprozesse durchsichtig. Dennoch bleibt der Mächtige bis heute eine mythische Figur.
K.WEST: Inwiefern schafft denn ausgerechnet diese Transparenz die Voraussetzung für das moderne Attentat?
SCHNEIDER: Die Tatsache, dass der Mächtige immer häufiger ins Bild gesetzt wird, dass er allgegenwärtig in den Medien ist – das gibt der politischen Paranoia zu denken. Je näher wir mit den Augen an den Entscheidungsträgern dran sind, und uns etwa die Frage stellen müssen, ob ihre Haare gefärbt sind, desto stärker nährt sich unser Verdacht, dass im Hintergrund noch etwas anderes abläuft. Gerade die Durchsichtigkeit der politischen Vorgänge bestärkt das Misstrauen. Je mehr wir sehen, desto gewisser ist, dass wir nicht alles sehen. Das ist ja auch richtig: Unterm Mikroskop sehe ich die Einzeller, nicht die Elefanten.
K.WEST: An diesem Punkt tritt dann der Verschwörungstheoretiker als Attentäter auf den Plan.
SCHNEIDER: Ganz genau. Für den Attentäter sind diese vielen Bilder so etwas wie ein Diaphragma, das ihn vom Eigentlichen, der schlimmen Wahrheit, fern hält.
K.WEST: Als politische Tat scheinen Attentate, so sie auf eine rationale Erwägung zurückzuführen sind, an Staatsformen gebunden zu sein, die Macht personalisieren. Nur so waren beispielsweise Tyrannenmorde sinnvoll. Wenn das richtig ist, müsste das Zeitalter derart motivierter Anschläge in der westlichen Welt zu Ende gehen?
SCHNEIDER: Das könnte man in der Tat annehmen. Die westliche Welt hat ja gerade die Vernunft als rationalen Terror erfolgreich gegen die Könige und Tyrannen ins Feld geschickt. Die von Richtern in Gang gebrachte Guillotine ist das Emblem der Vernunft. Wir erleben heute eine Zerstreuung der Macht, es gibt nicht mehr nur einen König oder einen Tyrannen, sondern hunderte von Miniaturkönigen und Zwergtyrannen. Das heißt aber nicht, dass die demokratischen Machthaber weniger gefährdet wären. Bei den Attentätern, die ich im Auge habe, bei den Sands, Luchenis, Oswalds, Hinckleys, James Earl Rays, Chapmans und wie sie alle heißen, kommt das Motiv aus einer anderen Rationalität: Sie töten Bilder mit besonderer Ausstrahlung.
K.WEST: Es gibt noch einen anderen Grund, der eigentlich für einen Rückgang von Attentaten sprechen müsste. Das Attentat funktioniert als Kompensationsgeschäft nur in religiös geprägten Gesellschaften. Welche Art von Belohnung dürfen ungläubige Attentäter erwarten?
SCHNEIDER: Für solche Prämien setzen selbst Attentäter im Nahen und Fernen Osten nicht ihr Leben aufs Spiel. Die Täter dort rekrutieren sich nicht nur aus der Gruppe der Hoffnungslosen und Ungebildeten, die meinen, für ihre Tat im Jenseits durch 4000 Jungfrauen belohnt zu werden. Man muss hier wie dort sehen, dass es zumeist sehr differenzierte Leute beider Geschlechter sind, die sich auf den Mächtigen stürzen oder die sich in einem blutigen Showdown selbst in die Luft sprengen.
K.WEST: Was aber treibt sie an, wenn weder politische, noch religiöse Gründe Ihre Taten erklären können?
SCHNEIDER: Den Täter nicht nur in der westlichen Welt reizt, dass er durch seine Aktion selber in den Raum des Erblicktwerdens eintritt. Er beseitigt das Bild des Mächtigen, um für eine kurze Zeit dessen Stelle einzunehmen. Was war der letzte Wunsch von Charlotte Corday, die 1793 Jean-Paul Marat ermordet hat? Sie wollte vor der Hinrichtung noch gemalt werden. Das Porträt sollte sie überleben. Dieser Wunsch findet sich bei vielen Attentätern. Sie sorgen dafür, dass es ein Foto, ein Video oder irgendein anderes bildliches Zeugnis von ihnen gibt. Attentäter können ja eine ungeheure Prominenz erlangen. Wenn man danach fragt, dann ist das eine viel attraktivere Prämie für die Selbstvernichtung. Alle Attentäter sind Nachfolger prominenter Vorgänger, deren Bild sie vor Augen haben.
K.WEST: Herostrat zündet 356 v. Chr. das Artemision von Ephesos an, um berühmt zu werden. Daraufhin, so wurde verfügt, sollte der Name des Täters dem Vergessen anheim fallen. Ist das, also das Verschweigen, das wirksamste Mittel gegen zukünftige Attentäter?
SchNEIdEr: Ganz sicher. Die Strafe für Majestätsverbrechen nach Römischem Recht sah eine solche radikale Auslöschung des Täters und seines Namens vor. Nur ist das für heutige Gesellschaften und ihr Transparenzverlangen keine Option mehr, weil dieses Verschweigen sofort wieder Verdacht erregen würde. Es gibt diese Verdachtbereitschaft, die überall, wo etwas nicht mehr reibungslos funktioniert, sofort eine Verschwörung vermutet.
K.WEST: Gibt es den typischen Attentäter?
SCHNEIDER: Es gibt eine Reihe von Zügen, die diesen Typ von Attentäter gemeinsam charakterisiert. Ein dominierendes Element ist die paranoische Wahrnehmung der Welt, was aber nicht heißen soll, dass diese Wahrnehmung einfach verrückt wäre. Man muss diesen Wahnsinn nuancierter betrachten. Dann reicht er von einer hoch sensiblen, sehr präzisen Wahrnehmung bis hin zur kompletten Verkennung, zum Delirium. Ein zweites Charakteristikum ist, dass der Attentäter die Geschichte der Attentate sehr gut kennt. Er ist mit den Szenarios von Caesar bis hin zu Kennedy vertraut. Zudem ist er vom Medialen regelrecht besessen. Egal ob von Bildern oder Büchern. Häufig schreibt er auch selber, führt Tagebuch und hinterlässt so ein Zeugnis von seinem mühsamen Weg hin zur Tat. Denn seine Entscheidung reift meist über lange Zeit in ihm. Solche Bücher und Texte, die Attentäter immer wieder lesen, spielen in diesem Prozess eine ganz entscheidende Rolle. Und nicht zu vergessen: Die Attentäter sind zumeist junge Leute.
K.WEST: Welches ist denn das zentrale Vorbild für den potenziellen Attentäter?
SCHNEIDER: Das Attentat des Brutus und seiner Freunde auf Caesar hat eine Tiefenwirkung bis ins 20. Jahrhundert hinein. Merkwürdigerweise trugen der Vater und der Bruder des Mörders von Präsident Lincoln, John Wilkes Booth, auch den Namen Brutus. Booth soll nach seiner Tat im Ford’s Theater in Washington auch die Brutus-Worte gesprochen haben »So geht es allen Tyrannen«. Denn das Tatdelirium entwickelt sich häufig aus einem starken moralischen Motiv. Der Attentäter möchte die Welt, die er durch Bilder und falsches Spiel aus den Fugen geraten sieht, mit einem Schlag in den Stand der Wahrheit zurückversetzen.
K.WEST: Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer spricht im Zusammenhang mit Selbstmordattentätern von »explosivem Narzissmus « und sieht den Grund solcher Taten in gekränktem Selbstwertgefühl. Wenn das stimmt, also politische oder religiöse Überzeugungen den Täter nicht vorrangig motivieren, müssten Feldzüge gegen den Terror dann allein deshalb schon nicht ganz anders geführt werden?
SCHNEIDER: Das ist sicher nicht falsch. Aber diese Sozialpsychologie sieht hier nur sehr wenig. Die christlichen Märtyrer, die Rom moralisch in die Knie zwangen, handelten aus »masochistischem Narzissmus«. Der Narzissmus ist die psychische Energie, die in Taten umgesetzt wird, nicht ihr Grund. Warum gerade diese Tat? Wie will man mit Narzissmus die Geschichtsmacht solcher Opfer erklären? Wer aus einer solchen Perspektive heraus nach potenziellen Attentätern sucht, muss die halbe Welt observieren. Es ist also die Frage, warum der Narzissmus zur Waffe greift oder sich in die Luft sprengt. Es sind oft sozial gut integrierte Menschen, die zu Attentätern werden. Die Täter sind zumeist sehr intelligente Leute und vermutlich ihren Opfern auch ähnlich. Daher führt es in meinen Augen weiter, solche Pathologien des Politischen selbst in den kleinsten Details zu beobachten: Der Einzeltäter erblickt sein Spiegelbild im Staatsmann. Der Staatsmann, der schon seit Jahrzehnten von einem cordon sanitaire aus Bodyguards umgeben ist, sieht die ganze Welt von terroristischer Gefahr erfüllt. Er glaubt sich deshalb zum Handeln gezwungen. Dadurch aber erzeugt er überhaupt erst die Probleme.
K.WEST: Wie erklären Sie sich, dass Attentate so überaus offen für Interpretationen und Legendenbildung sind?
SCHNEIDER: Wir setzen einen großen Erklärungsapparat in Gang, weil es uns schwer fällt, Unglücksfälle, Katastrophen und Verbrechen in ihrer brutalen Zufälligkeit hinzunehmen. Was sich auf kein Gesetz und keine Regel bringen lässt, überfordert unsere Vernunft. Die Vernunft ist wahnsinnig vor Verlangen nach Gründen. Das ist ihr eigenes paranoisches Wesen. Deshalb suchen wir den Zufall stets durch Gründe, wie sie zum Beispiel die Sozialpsychologie liefert, wegzuerklären. Der Attentatstypus, den ich untersuche, ist ein Paradigma für solche Ereignisse: unvorhergesehen, singulär und rational nicht zu durchdringen. Gegen eine solche Zumutung helfen dann eben Verschwörungstheorie und Geschichtsparanoia.
Manfred Schneider beschäftigt sich seit längerer Zeit mit unterschiedlichen Formen politischer Pathologie. 1980 erschien sein Buch »Die kranke schöne Seele der Revolution «, 1997 kam die Untersuchung »Der Barbar. Endzeitstimmung und Kulturrecycling« heraus. Als Essayist und tagesaktueller Kommentator schreibt er regelmäßig im Kursbuch, in Literaturen und in der Frankfurter Rundschau. //