Nun ist es bekanntermaßen ein seltsam’ Ding um die Liebe und um die Vorlieben. Nehmen wir, bevor wir zu unserem eigentlichen Gegenstand kommen, nur mal die Ergebnisse einer TV-Umfrage nach den 100 Lieblingsorten der Deutschen, die jüngst der Herr Kerner veranstaltete. Demnach liegen die liebsten Lieblingsorte so ziemlich alle in NRW. Der Kölner Dom (Platz 1), der Prinzipalmarkt in Münster (Platz 4), der Rathausplatz in Paderborn (5) und die Wuppertaler Schwebebahn (6). Wir möchten nicht ungehörig sein, aber stellt sich da nicht sofort die Frage, was hat beispielsweise das Paderborner Rathaus, was das Münchner Hofb räuhaus (Platz 7) nicht hat? Münster, nun ja, das geht in Ordnung, mit einer kleinen Korrektur. Wenn man den Blick weg vom Prinzipalmarkt lenkt, hin zum Aasee. Denn seit diesem Jahr ist der Aasee in Münster der romantischste Ort Deutschlands. Nicht wegen seiner sublimen Wasserqualität (Blaualgen, E. Coli, Düngemittelzuleitungen und auf seinem fl achen Grunde still ruhende Fahrradwracks). Sondern weil er zum Schauplatz einer großen Liebe wurde. Das unerhörte Liebesmärchen begann im Mai, und seitdem treten sich wachsende Horden von Journalisten und Fotografen, Radioleuten und TV-Teams aus aller Welt an seinem Ufer gegenseitig auf die Flossen, um den Fortgang einer tragischen Romanze zu rapportieren. Die Geschichte, die die Welt erschüttert, geht so: Eines schicksalhaft en Tages im Mai tauchte ein junger schwarzer Schwan am Aasee auf. Dieser Trauerschwan verliebte sich unsterblich in ein Tretboot. Natürlich nicht in irgendein Tretboot, sondern ein Tretboot in Gestalt einer großen weißen Plastik-Schwänin. So groß, dass unser Held ihr gerade mal ein wenig bis über den Bürzel reicht, wenn er sie ausdauernd umkreist, umwirbt und bewacht, wie er es seit Monaten tut. Kaum je lässt er seine Riesendame aus den Augen, höchstens mal, um rasch ein paar Eiswaff eln von Bootsausfl ügler zu vernaschen, die in Busladungen kommen, um Zeugen einer Liaison zu werden, die an Schönheit wohl kaum einen Flügelschlag von den homerischen Hymnen entfernt ist. Danach rudert unser Galan sogleich zurück, um seine reglose Schöne gegen unziemliche Annäherungsversuche von Tretund Segelbooten zu verteidigen.
Auch macht es ihm nichts aus, dass seine Leda eine ist, die man mieten kann. Tuckert sie mit ihren Kunden davon, folgt er hastig, und weit hört man sein verzweifelt zärtlich fl ehendes Trompeten. Niemals entmutigt den kleinen schwarzen Schwan mit dem großen reinen Herzen, der schon als neues Wahrzeichen von Münster gilt und bald Kinderbuch- Held wird, die Ungerührtheit seiner ewig schweigenden Tretboot-Liebe, die ihn weder hört und erhört.
Schwärme von Ornithologen und Verhaltensbiologen wurden befragt ob dieser »fehlgeprägten Bindung«, es gab sogar schamlose Vermutungen, das Ganze werde nicht lange halten, der Trauerschwan sich schon übermorgen an eine Boje heranschmeißen oder nach der Balzzeit sein Gefährt, pardon, seine Gefährtin schnöde verlassen. Nichts da! Er ist ihr treu, bis heute. Aber was wird die Zukunft bringen, fragt man sich bang. Schwäne sind streng monogam und können dreißig Jahre alt werden. Darf man daran erinnern, dass es ein wirklich erfülltes Lieben für die beiden wohl nie geben wird? Nie wird Er mit Ihr kleine, niedliche Trauertretboote zeugen. Und was wird jetzt im November werden? Wenn der wahre Besitzer der Tretbootschwänin, der Bootsverleiher Overschmidt, mittlerweile auch ein vielbeschäft igter Interviewprofi ist in Sachen Schwanensee-Tragödie, der bei Radio-Liveschaltungen nach Irland brilliert und vor US-Kamerateams, sein Geschäft den Winter über schließt? Wenn der See zufriert und die Plastikschwänin aufs Trockene muss? Dem Mann bricht schier das Herz bei dem Gedanken, Schwan und Tretboot auseinander zu reißen. Neulich erst lehnte er eine Anfrage ab, das Schwanentretboot für eine Hochzeit nach auswärts zu vermieten.
Auch uns macht der Gedanke an den kleinen Liebeshelden, wie er da so allein in langen Winternächten nach seinem geliebten Tretboot schreit, frösteln. Rasch streifen wir unser Souvenir-T-Shirt »Mein lieber Schwan – Aasee-Sommer 2006« über. Von irgendwo her fl iegt uns auf Schwanenschwingen der Trauerschwanengesang Gottfried Kellers zu.
Siehst mich am kühlen Waldsee stehen, Wo an herbstlichen Uferhöhen Zieht entlang ein stummer Schwan. Still und einsam schwingt die Flügel Tauchet in den Wasserspiegel, Hebt den Hals empor und lauscht. Und schweigend blicken wir in die Münstershops- Schüttelkugel mit dem berühmten Liebespaar, umweht von Schneegestöber- Glimmer.