Gehüllt in eine Robe aus Notenblättern und eingepudert bis in die hochtoupierten Haarspitzen, steht sie da an der Bühnenrampe. In den nächsten vier Minuten wird sie das Regiment übernehmen. Als »La Folie« kostet Mireille Delunsch dann derart narzisstisch ihre Ko¬loraturenkünste aus, dass der Dirigent schon mal auf die Uhr zeigen muss. Bevor er sich schließlich ängstlich hinter seinem Pult verkrümelt und ganz klein macht, um sich vor der Furie dort oben in Sicherheit zu bringen. So buffonesk aufgedreht und brillant kann Barock-Oper sein. Voraussetzung dafür ist aber immer ein Sängerteam, das bei aller exzellenten Stimmenschauspielerei keine Scheu vor Klamauk hat.
Natürlich darf auch ein Pult-Athlet wie Marc Minkowski nicht fehlen, der jede musikalische Richtungsänderung hellwach aus dem Ärmel schütteln kann. All das kam im vergangenen April zusammen, als in der Pariser Garnier-Oper »Platée« von Jean-Philippe Rameau inszeniert wurde. Zwar hatte Minkowski diese 1745 in Versailles ur¬aufgeführte, mit- und hinreißende Götter-Komödie schon vor sieben Jahren erstmals an gleicher Stelle dirigiert. Und bereits 1990 machte er im Aufnahmestudio der bemitleidenswerten Nymphe Platée Sprung-feder-Beine. Doch mit Rameau verbindet Minkowski eben eine so verschworene Liaison musicale, dass er nicht anders kann als regel¬mäßig zu dessen Noblesse und seinen verrückten Harmonien zurück¬zukehren.
Dabei hält es Minkowski andererseits längst mit den von ihm ehe¬mals verehrten Dirigentenkollegen Nikolaus Harnoncourt und John Eliot Gardiner. Wie diese beiden Pioniere der musikhistorischen Auf¬führungspraxis lässt Minkowski mittlerweile immer öfter das Barock-Zeitalter hinter sich, um im Repertoire des 19. und 20. Jahrhunderts festzumachen. Bei Schubert, Schumann und Mendelssohn etwa. Oder bei Wagners »Fliegendem Holländer«, Debussys »Pélleas et Melisan¬de« und – nicht zu vergessen – bei den Opéra-Bouffes von Jacques Offenbach, den er für einen gnadenlos unterschätzen Komponisten hält. Wenngleich auch hier gilt: »Bitte keine Etikettierung als Barock- oder Operettenspezialist. Das sind zwei Genres, die ich liebe und ganz gut mache. Aber ich kämpfe gegen dieses Schubladendenken.« Tat¬sächlich hat er damit nicht nur den Satz auf die Bühnenbretter der führenden Opernhäuser und Festivals geschafft.
Der wendige Geist und reaktionsschnelle Dirigierkörper des in Pa¬ris geborenen Minkowski ist inzwischen auch bei den Spitzenorche¬stern gefragt. Mit dem Mahler Chamber Orchestra hat er die Gesamt¬einspielung sämtlicher Beethoven-Sinfonien gestartet; er gab seinen Einstand bei der Los Angeles Philharmonic mit Berlioz’ »Symphonie Fantastique« und steht selbst bei den Berliner Philharmonikern immer häufiger am Pult. Bei allem Jetset, der ihn als »Zauberflöten«-Dirigent zur RuhrTriennale geführt hat, bleibt jedoch ein Orchester weiterhin erster Bezugspunkt. Es ist das Spezialistenensemble Les Musiciens du Louvre, das Minkowski im zarten Alter von zwanzig Jahren in Paris gründete und das seit 1996 in Grenoble residiert. »An den Musiciens du Louvre liebe ich bis heute ihre Kraft, Präzision, Griffigkeit und die große technische Kontrolle.« Alles Qualitäten, die nicht von ungefähr kommen. Immerhin rekrutiert Minkowski alle vier, fünf Jahre neue Musiker, die ihr Handwerk u.a. bei der inzwischen aufgelösten Musica Antiqua Köln gelernt haben.
Obwohl vom Stammbaum her eine Alte Musik-Truppe, die das Schwingungspotenzial ihrer Darmsaiten aus dem Effeff kennt, ist man aber genauso weit entfernt vom spindeldürren Originalsound wie überhaupt von jeder Art von musikantischem Dogmatismus. So dürfen mehr oder weniger moderne Instrumente dort schon mal zum Einsatz kommen, wo es für ihren Chef am sinnvollsten ist: »Offenbachs dama¬liges Orchesterprofil buchstabengetreu nachzuahmen, wäre ziemlich langweilig. Dann würde man nämlich Offenbach nur wieder in eine Vitrine stecken. Mich interessiert eher, wie ich mit Instrumenten von heute das Klangbild von gestern wiederbeleben kann.« Statt zäh-mas¬sigem Mischklang, mit dem gewöhnlich der Operettenton ins Plumpe abrutschte, setzt der ausgebildete Fagottist und Dirigentenschüler von Charles Bruck auf gestraffte Konturen, gibt den Rhythmen elegante Schärfe und stellt sein Musiktheater-Temperament mit delikaten Läs¬sigkeiten unter Beweis. In den Cancans, Walzern und Ensemblesze¬nen von »La Belle Hélène« bis zum »Orpheus aus der Unterwelt« zeigt Minkowski so, wie jede musikphilologische Verkniffenheit gnadenlos locker gemacht werden kann.
Eine prominente Sängergilde ist dabei sicherlich hilfreich. Als 2002 Les Musiciens du Louvre in Paris ein Geburtstagskonzert anlässlich ihres 20-jährigen Bestehens gaben, kamen mit Anne Sofie von Otter, Felicity Lott, Mireille Delunsch, Natalie Dessay und Jean-Paul Fou¬chécourt langjährige Minkowski-Fans ins Pariser Théâtre du Châte¬let. Mittlerweile zählen auch eine Magdalena Kozená und eine Cecilia Bartoli zu den Verehrerinnen. Mit letzterer hat er unlängst bislang vergrabene Oratorienarien aus dem Rom des frühen 18. Jahrhunderts freigelegt. Nach solchen Abenteuerreisen zieht es Minkowski aber dann doch immer wieder zu den Anfängen seines musikalischen Den¬kens zurück. Zu der von ihm einmal als »Wirbelsturm« bezeichneten Musik von Jean-Philippe Rameau: »Rameau könnte man als barocken Strawinsky bezeichnen. Die Musik in seinen Opern ist faszinierend. In ›Les Boreades‹ gibt es viele Stellen, an denen die Musik nicht genau einzuordnen ist. Die Tänze sind in gewisser Art sehr revolutionär.«
Da selbst feinste Amuse-gueules unter den Händen von Marc Min¬kowski Drei-Sterne-Qualität erreichen, hat er aus verschiedenen Ra¬meau-Opern nun Tänze und lautmalerische Intermezzi filetiert und zu einer »Symphonie Imaginaire« arrangiert. Da blitzen, donnern und zucken die Bläser, stolziert ein Fagott herum und hüpfen die Tambou¬rins umher. Und selbst die Streicher bekommen schnittige Flügel und ungeahnte Fliehkräfte, mit denen sie wie auf einer Sprungschanze zu¬nächst höllische Fahrt aufnehmen – um atemberaubend abzuheben und große Bögen in den Himmel zu malen. Während unten auf dem Boden eine »Henne« wild gackert, rumflitzt und flattert. Stellt man sich dann noch vor, wie Marc Minkowski im Studio mit seiner typi¬schen Haltung eines dauerwippenden und dauerlächelnden Tanzbä¬ren diesen Piècen Zucker und Zunder gegeben hat, ist das Vergnügen endgültig komplett. So soll es sein.
Am 20.12. spielen Les Musiciens du Louvre-Grenoble unter Leitung von Marc Minkowski Werke von Jean Philippe Rameau und Joseph Haydn im Zeughaus Neuss; www.zeughauskonzerte-neuss.de