K.WEST DEZEMBER 2007 OPER
Weihnachtszeit ist Opernzeit. Die Auslastungszahlen der Musiktheater schnellen ab Mitte November in die Höhe. Das Repertoire für die adventliche, Gnaden bringende Katharsis ist erprobt. An drei Opernhäusern kamen entsprechend Produktionen heraus, die auf die beseligenden Bedürfnisse zugeschnitten sein wollen. So verschieden die Abende auch sind, leiden sie doch alle an Konzeptionsschwäche, mangelnder Konsequenz und bisweilen handwerklichem Ungeschick. Als wären die Dramaturgen im Generalstreik, so wie die Autoren derzeit in den USA. Im Duisburger Haus der Rheinoper hat Regisseur Christopher Alden für Verdis »Nabucco« gleichwohl seinen eigenen Dramaturgen Peter Littlefield mitgebracht, der im Programmheft weit ausholt und vollmundig ein modernes Mysterienspiel und brisante Aktualisierung verspricht. Die kann Verdis Frühwerk durchaus vertragen, denn »Nabucco« gilt als schwierig, gerät es ob der noch eher schematisch gezeichneten Charaktere und seiner starken Chorpräsenz leicht zum Oratorium. Schon deshalb ist das Werk bei Openair-Veranstaltungen so beliebt: Statuarisches Rampenspiel scheint ihm gleichsam einkomponiert.
Dem wollte Alden entkommen, indem er der Ausstattungs-Oper radikal entsagte und die eigentlich auf der Hand liegende Vergegenwärtigung zwar nicht mit dem sprichwörtlichen Holzhammer, wohl aber mit einem bizarren Papp-Bulldozer besorgte. Das Monstrum rollt bedeutungsschwer auf die leer gefegte, nur vom eisigen Licht trister Straßenlaternen beleuchtete Bühne, auf der sich nicht näher bezeichnetes Volk in heutiger Kleidung tummelt. Absperrgitter drängen die starr posierenden Choristen zusammen, die sich nicht in Babylonier und Hebräer aufteilen, sondern eine anonyme Masse bilden, auf deren Schultern sich feiner 9/11-Brandstaub ablagert. Angesiedelt ist das unheilvolle Geschehen dann aber trotzdem im Israel-Palästina-Konflikt, wobei aus König Nabucco ein größenwahnsinniger Bauunternehmer und Baggerführer mit Schutzhelm und Signalweste wird.
Nach der Pause ist die Bühne (Paul Steinberg) mit allerlei Sperrmüll zugestellt, doch am lähmenden Zustand ändert sich nichts. Der Machkampf zwischen Nabuccos unehelicher Tochter Abaigaille und ihrer Stiefschwester Fenena wird verschenkt und interessiert so wenig wie letztlich das plakative Betroffenheits- und Polit-Konzept. Wie gewohnt an dem Zwei-Städte-Haus (wenn zwar mit Abstrichen), wird respektabel gesungen und gespielt. John Fiore facht die Duisburger Philharmoniker zu Brillanz und Brio an, tadellos präzis und gut ausbalanciert klingen die großen Chöre, deren Widerstand gegen die sie behindernde Regie förmlich zu greifen ist. Therese Waldner meistert die mörderische Partie der Abilgaille mit Bravour, doch wirkt sie seltsam unterspannt und nicht auf der Höhe ihren Möglichkeiten. Gewohnt markig und präsent mit anrührenden Momenten Boris Statsenko in der Titelrolle; stimmlich blass Laura Nykänen als Fenena, Mikhail Kazakovs Zacharias klingt leicht forciert. Ein Buh-Orkan für die Regie, Jubel fürs Musikalische. Der vermeintliche Regietheater-Coup dürfte dem Weihnachtsgeschäft nicht gut tun; zum Ausgleich hat Duisburg noch seine »Hänsel und Gretel« von 1968 im Repertoire …
Die Dortmunder Ausstatterin Sandra Linde muss offenbar diese legendäre Rheinopern-Produktion gesehen haben, denn im zweiten Bild ihres Humperdinck-Märchens greift sie zu ähnlichen Mitteln: nämlich den Märchenwald mit in die Tiefe gestaffelten Prospekten darzustellen, so wie es weiland Heinrich Wendel tat. Der Dortmunder Humperdinck-Evergreen beginnt mit einer pfiffigen Idee. Zur Ouvertüre teilt sich der Vorhang ein Stück und zeigt zwei adrett gekleidete Kinder, die sich mit Lumpen verkleiden. Die geöffnete Bühne bietet einen großbürgerlichen Salon, der jenem der Wagner-Villa Wahnfried ähnelt. Es ist Weihnachten und gegeben wird kein Krippenspiel, sondern das grausame Märchen von Hänsel und Gretel. Allmählich zieht sich die gediegene Gemütlichkeit dieser zweiten Erzählebene zurück, das Spiel im Spiel verselbstständigt sich.
In der nächtlichen Waldszene kehren die lauschenden Bürgerkinder zwar als Engelchen zurück, ansonsten hat sich der Geist der Rahmenhandlung rasch verdünnisiert. Dabei könnte der Verweis auf Wagner, dessen Assistent Humperdinck war, der lange unter seiner Bayreuth-Neurose litt, bevor es sich mit seiner Märchenoper, auch ironisch Kinderstuben- Weihfestspiel genannt, endlich frei schrieb, mehr als nur thesenhaft behauptet sein. Doch Regisseur Dominik Wilgenbus mochte sich nicht entscheiden: zwischen sachdienlicher Beschäftigung des erwachsenen Publikums und kindgerechter Märchenerzählung. Wobei er betont auf ein nicht immer zündendes Effekt-Feuerwerk und technischen Aktionismus setzt. Die Prospekte fahren auf und nieder, allerlei Getier tummelt sich, Fliegenpilze und Erdbeersträucher wackeln hin und her, Vögel schweben am Faden, Wölkchen ziehen und ein Eichhörnchen trägt schwer am Kunstfell. Das Hexenhaus indes sieht aus wie eine Lakritzgarage und will am Ende gar nicht explodieren.
Das Geschwisterpaar ist mit Martina Schilling (Gretel) und Franziska Rabl (Hänsel) klangschön besetzt; Hannes Brock gibt die Knusperhexe als pinkfarbene Transe, was nicht sehr witzig ist; Ji Young Michels Mutter Gertrud gurgelt und wirkt wie eine verirrte Erda; alle anderen präsentieren sich tadellos. Günter Wallner animiert am Pult zu süffigem Spiel, wunderbar glockenklar singen die Kinderchöre. Ein bildreicher, zugkräftiger, musikalisch erfreulicher Abend.
In Gelsenkirchen stehen mit »La Bohème« die Zeichen auf Anfang. Der designierte Intendant Michael Schulz stellt sich bereits als Regisseur vor, der schon amtierende neue GMD Heiko Maria Förster erarbeitet erstmals eine Produktion im Opernhaus. An Puccinis »Bohème« hat das Regietheater zu knacken; dem Werk ist mit Abstraktion so wenig beizukommen wie mit Aktualisierung. Dietrich Hilsdorf hat in Bonn versucht (siehe K.West, Ausgabe November), den Milieu-Kitsch zu bannen, indem er das Personal entzauberte und brutalisierte.
Schulz geht sanfter vor, bleibt dafür im Ungefähren. Die Künstlermansarde stattet er brav traditionell aus, die Männer-WG agiert grobschlächtig komödiantisch, Mimi umkreist schon das Tableau und wartet nur, bis les amis aus dem Haus sind, um Rodolfo zu umgarnen. Beiläufig schnurren die großen Arien ab, Mimi macht sich parallel zum hohen C von Rodolfo (der lyrisch glänzende Fulvio Oberto ist die Ausnahme im ansonsten mittelprächtigen Ensemble) an seiner Schreibmaschine zu schaffen. Im Café Momus herrscht Bierzeltgedrängel (Bühne: Kathrin-Susann Brose) – und alsbald wird’s unlogisch. Denn Mimi und Rodolfo trennen sich offenbar noch in derselben Nacht, in der sie einander begegneten. Am verkaterten Morgen findet das Trennungsgespräch statt, Mimi nach wie vor im sauberen Sommerkleidchen und barfuß. Kein Wunder, dass man sich da verkühlt! Im Schlussbild kehren wir zurück unters Dach, wo die immer noch vor sich hinwerkelnden Bohémiens plötzlich am Stock gehen und ergraut sind, während die sterbende Mimi partout das herzige Mädel im dünnen Fähnchen bleibt. Während bei Hilsdorf die Künstler ihr Liebesleben kreativ und erfolgreich ausbeuten, steht Schulz auf dem Dachboden von Puccinis Tatsachen – wie die Inszenierung auch sonst ziemlich bodenverhaftet bleibt. Ein Aufbruch sieht anders aus. Kein Vom Himmel hoch in Sicht.