Braucht der Film das Theater? Will sagen: Haben Kinomeisterwerke die Nachinszenierung auf der Bühne nötig, vielleicht, weil ihnen irgendetwas fehlt? Die Antwort erübrigt sich. Umgekehrt allerdings besteht offenbar große Abhängigkeit, die Zahl der in den letzten Jahren von der Bühne adaptieren Kinokunstwerke wächst ständig – solche von Tarkowskij, Fellini, Greenaway, Fassbinder, Godard und besonders gern Lars von Trier. Und das, obwohl Theaterleute sich damit in der Regel in Konkurrenz zu Regisseuren und Schauspielern von Weltrang sowie zu einer Illusionsmaschine begeben, gegenüber der die des Stadttheaters einer Puppenbühne gleicht. Das Ergebnis: zwangsläufiges Scheitern. Denn da die Zuschauer die berühmten Vorlagen im Kino gesehen haben, sitzt der Vergleich mit im Parkett.
Was also treibt Theaterleute? Masochismus? Mausenwollen von anderleuts Ruhm? Die Antwort auf die Frage fehlt; wird durch die Inszenierungen selbst auch nie verraten. Auch nicht von den beiden, die jetzt erneut in NRW Filmstoffe anpackten – und sich prompt verhoben. Eine traurige Systematik hat das.
Darum nur knapp die Fakten: Das Schlosstheater Moers hat »21 Gramm« theatralisiert, jenen Film von A.G. Iñárritu nach dem Drehbuch von Guillermo Arriaga (2003); das Schauspiel Düsseldorf »Europa«, einen frühen Film von Lars von Trier (1991). Beide Filme sind auf DVD zu erhalten, wozu aus zwei Gründen geraten wird: Erstens sind es großartige Filme. Zweitens hat man von beiden Theater-Inszenierungen so gut wie nichts, wenn man die Filme zuvor nicht gesehen hat. Denn aus berechtigter Angst vor dem Vorbild versucht man auf beiden Bühnen, mit dessen Material gewaltsam etwas ganz Anderes herzustellen. In Moers (Regie Ulrich Greb) nimmt man die Schnittstruktur und überdreht sie ins Selbstbezügliche; in Düsseldorf (Regie Sebastian Baumgarten) nimmt man den Plot und überdekoriert ihn ins Selbstverliebte. Beide Verfahren fügen ihren Vorbildern nichts hinzu, aber nehmen ihn reichlich weg.
»21 Gramm« handelt vom Leben, also von der Sehnsucht und vom Scheitern trotz aller Technik, allen Bemühens. »Europa« handelt von der Kunst: wie sie mit Bildern ein Zeichen aufrichten kann für eine Lage, die vor Wirrnis und Schmerz nicht zu fassen ist: 1945 im kriegszerstörten, auschwitzvergifteten Deutschland.
Ein Mann löscht mit dem Auto fast eine ganze Familie aus; ein anderer bekommt das Herz des Getöteten transplantiert; seine Ehe zerbricht; er und die verwaiste, in Trauer erstarrte Frau kommen sich näher, planen die Rache am Täter. Aber nur eines bleibt: dass wir sterben müssen. »21 Gramm« ist asynchron geschnitten, dies allein interessiert die Moerser Regie, die den Verlauf nun bis ins Unverständliche durcheinander wirbelt und auch noch die Personen vermixt; von der starken Lebenswut und ebenso starken Melancholie des Films, von seiner Liebe zu den Figuren bleibt nichts. Es agieren Platzhalter, Satzsager in Szenensplittern. Schostakowitschs Sonate für Bratsche und Klavier op. 147, die zwischendurch gespielt wird, bleibt Garnierung. Verlust gegenüber der Filmvorlage: 90 Prozent.
Dagegen findet die »Europa«-Fassung im Düsseldorfer Kleinen Haus zumindest anfangs Bilder, denen man zutraut, denen Lars von Triers zur Seite zu treten. Der Plot: Ein junger Amerikaner will 1945 als Schlafwagenschaffner im zerstörten Deutschland humanen Dienst tun, gerät zwischen die Fronten von Altnazis, Geschäftemachern und Besatzung und wird aus Liebe zum Attentäter. Während sich von Trier der optischen Verfahren des Stummfilms bedient, um die Suggestion eines kafkaesk Unentrinnbaren zu erzeugen, nutzt Baumgarten die Interaktion von Schauspielern und Video- sowie Soundanimationen, um ein dito Zwischenreich zu situieren. Schon bald jedoch gibt er den historischen Bezug auf und steuert irgendein anderes zeitgenössisches oder zukünftiges gomorrhisches Babylon an. Was anfänglich ambivalent war, dreht ins Skurrile, verklumpt schließlich zum Trash – statt existenzieller Fremdheit grelle Einfälle. Das Bild des Zuges, aus dem man nicht aussteigen kann, im Film zu voller Größe aufgerichtet, ist auf der Bühne klein und eher komisch; die Verklammerung von Opfer- und Tätertum, Mitmachern und Juden, Amerikanern und Deutschen weicht einem unverbindlichen Spiel mit diesen Elementen. Adaptionsverlust: 50 Prozent.
Was bleibt? Das Rätsel allein, warum Theaterleute sich, den Theater- sowie den Filmliebhabern dies antun. UDE