Eine üppig blondierte Dame, Typ spätes Mädchen, im knöchellangen weinroten Kostüm spaziert herein, geht an einen altmodischen Plattenspieler, legt den Tonarm in die Rille, pflanzt sich auf und lauscht auf den Klang Aber die Dame ist keine Dame, der Ton lässt auf sich warten, die Scheibe hat einen Sprung. Lippen schweigen, ’s flüstern keine Geigen. Bis auf weiteres. Clemens Sienknecht ist ein Sucher und Finder im unendlichen Klangraum. Der Hamburger, bühnenmusikalisch sozialisiert von Christoph Marthaler und wie der Schweizer Kollege ein Entschleuniger, ist selbst ein »Ladenhüter«, der »berühmte Melodien – sensationell reduziert!«. So hieß vor einigen Jahren eine seiner etwas anderen Inszenierungen. Mit Liederabend wären sie nur unzureichend charakterisiert; sie als Revuen zu bezeichnen, stimmt auch nicht, denn sie haben nichts Glamouröses, Gerüschtes; ihr Wesen ist vielmehr kleinlaut, verschroben, ungelenk. Sonderlinge, Kuriositäten, skurrile Figuren treten auf, nun auch in Köln, wo in der Schauspiel-Schlosserei Sienknecht mit »Radio Ro« auf Sendung geht: er als Lady in Red, Graham F. Valentine, der geniale Schotte und oftmalige Marthaler-Mensch (ebenfalls züchtig im kleidsamen Rock), sowie drei echt frauliche »Dorfschwalben« und Singvögel, die zum Beispiel auf Schwyzerdütsch zwitschern und es sich ansonsten an ihren Pulten mit Thermoskanne, Stricknadel und Snack gemütlich machen. »Radio Ro« scheint eine rein weibliche Domäne zu sein, wenn auch nicht ganz Gender-Studies-fest.
Im gemütvollen Nostalgie-Charme des Sendestudios ringt sich das swingende, singende Quintett ein Programm ab, das über Ansatz und Ansage selten hinaus kommt und eher das Attribut Pausenfüller verdient, zapft verschiedene Klangquellen an, wechselt die musikalischen Ausdrucksmittel neben der in ungeahnte Höhen sich aufschraubenden menschlichen Stimme. Der Wiederholungszwang ist das genial variierte Grundmotiv dieser ätherischen Veranstaltung, etwa wenn Anja (Lais) gerade dann nie bei Stimme ist, wenn sie ihren Beitrag ins Mikro sprechen soll, aber doch einmal heftig wird und bei einem Love Song die sonst gepflegte Contenance verliert. Oder wenn Sienknecht selbst am Piano ein Medley von in Schlagern verewigten Frauen- und Mädchennamen vorträgt, dass man ganz vergisst, Luft zu holen. Präzision und Timing der Nummernfolge, die täuschend perfekte Kombination von Live und Playback, die rasanten und raffinierten Übergänge, die irrwitzigen Neufassungen (darunter »Je t’aime« und Dusty Springfields »Son of a Preacher Man«), der schöne Kreisschluss mit Richard Strauss: All das und noch viel mehr macht »Radio Ro« zu einer schützenswerten Nischen-Existenz. Prädikat besonders wertvoll. AWI