Himmel und Hölle, wer wüsste das nicht, liegen manchmal ganz nah beieinander. Manchmal sind sie nur durch eine Wohnungstür voneinander getrennt. Zumindest im Paris der 20er Jahre soll es einen Ort gegeben haben, wo man gleichsam zu Fuß aus der Unterwelt ins Überweltliche, vom Disparaten ins Wohlgeordnete, ins Paradiesische kam; ein paar Schritte die Treppe hinauf reichten aus. Zumindest, wenn man den euphorischen Worten eines jungen Belgiers, Michel Seuphor, Glauben schenken will, der damals den verehrten Meister Piet Mondrian zu Hause besuchte. Dort angekommen, in den großen und chicen, peinlichst sauberen und peinlichst aufgeräumten Räumen des Maler-Domizils inmitten des Pariser Großstadtdschungels, war der Besucher überwältigt: »Als komme man aus der Hölle in den Himmel«, so hat er später den Eindruck beschrieben, vom Schmutzig-Grauen und Chaotischen, vom Ungezügelten und Abgetakelten der städtischen Landschaft ins gleichsam klinische Weiß und wohlkalkulierte Ebenmaß der Wohnung Mondrians einzutauchen.
Ob der strenge Asket aus dem kalvinistischen Holland, der nichts so sehr liebte wie die priesterliche Attitüde, der sich als Zuchtmeister seines ganzen Zeitalters verstand – ob er zufrieden gelächelt hat, als er vom Überschwang seines jungen Bewunderers hörte? Denn darin genau lag ja sein Ehrgeiz: Himmlische, paradiesische Zustände einzuleiten und herzustellen. Durch eine Malerei, aus der alles Figürliche, alles Benennund Beschreibbare, jede konkrete Erinnerung ans irdische Jammertal getilgt ist. Aus der das einfach Menschliche, das Alltägliche, das Zufällige und Unkalkulierbare exorziert ist, wo universelle Gesetze herrschen, gleichsam göttliche, universelle Harmonien: Sphärenmusik, ein erhabener Reigen aus geraden Linien und rechteckigen Winkeln, aus den drei Primärfarben Rot, Gelb und Blau und den Nichtfarben Schwarz und Weiß. Zumindest soll seine, die neue, die moderne, die abstrakte Kunst den Weg dahin weisen: Zum »irdischen Paradies«, wie es in seinen Traktaten immer wieder heißt. Demjenigen, der diesen Weg sucht, dem »Menschen der Zukunft«, hat er ausdrücklich seine theoretischen Schriften, letztlich sein ganzes Schaffen gewidmet: Demjenigen, der danach strebt, sich von der »Herrschaft des Tragischen« zu befreien: Vom Missklang des Subjektiven. Von der Welt der natürlichen Erscheinungen, der Dingwelt, dem ewig unvollkommenen Werk der läppisch-launischen Natur.
Zu hören, dass der Besucher sich beim Betreten der Wohnung gleichsam ins Paradies versetzt fühlte, dürfte deshalb den holländischen Maler fast so sehr geschmeichelt haben wie all die lobenden Bemerkungen über die legendäre Geschmeidigkeit seiner Tanzbeine beim Charleston oder Foxtrott in den Pariser Bars: Auf eben diesen Effekt zielte das ganze Kalkül.
Piet Mondrian (1872-1944) war, trotz seiner demonstrativen Attitüde weltfernen Eremitentums, im Paris der 20er Jahre zu einer viel bestaunten Kapazität geworden. In Lichtgeschwindigkeit gleichsam hatte er den Kubismus, der ihn schon vor dem Ersten Weltkrieg in die französische Metropole gelockt hatte, hinter sich gelassen und die Abstraktion, die Reduktion des Weltlichen in seinen Bildern so weit getrieben wie niemand vor ihm: Zum »Nullpunkt der Formen « war er aufgebrochen. Besucher und Bewunderer wie Michel Seuphor gab es also reichlich. Und es gab, gerade in dieser Epoche nach den Erschütterungen, den Nervenzerrüttungen des Weltkriegs, ein ins Extreme gesteigertes Erlösungsbedürfnis, die Sehnsucht nach Tabula rasa, nach Neuanfang, nach radikalem Bruch mit allem Vergangenen. Es galt, möglichst viel Ballast abzuwerfen für einen kühnen, ungeahnten Höhenflug.
In der Pariser Wohnung Mondrians, wo seine Werke vor Wänden hingen, die nach den gleichen Prinzipien, in den gleichen Formen gestaltet waren, wo geradezu klinische Zustände herrschten, eine Laboratmosphäre – in dieser Wohnung schien für den Aufbruch in bessere Zeiten alles bereitet. Hier residierte der Maler wie ein Mönch in seiner Klause. Und zugleich wie ein Technokrat, ein Dr. No der klassischen Moderne, in einer perfekt gestylten, futuristisch anmutenden Maschinenhalle. Hier verschmolz der Maler mit seinen Rollen, mit seinen Anmaßungen: Als Mystiker und Missionar, Prophet und Revolutionär, als Techniker des Neuen, als Kosmonaut im unendlichen Universum der geometrischen Formen hat Piet Mondrian sich spätestens seit den 20er Jahren inszeniert. Parallel zum epochalen künstlerischen Werk nimmt die Künstlerexistenz mit ihren legendären, heilsgeschichtlichen Zügen damals Gestalt an. Man kann das Werk Mondrians nicht betrachten, nicht recht würdigen, ohne zugleich das Rollenspiel seines Schöpfers zu reflektierten. Die Leistungen des Malers Mondrian, seine Entdeckungen und Terrain-Eroberungen, sind nicht zu trennen von diesem pompös-pathetischen Missionseifer, der zugleich speziell biografische wie allgemein zeitgeschichtliche Ursprünge hat. Der, als rhetorisches Zierwerk, das Werk ebenso belastet, wie er diesem eine erstaunliche, schier unwiderstehliche Folgerichtigkeit verleiht. Mondrians missionarisches Selbstverständnis formt den Soundtrack zu seinem künstlerischen Schaffen.
Das Museum Ludwig bietet nun bis zum Frühjahr eine erstklassige, einmalige Gelegenheit, das Werk und die künstlerische Persona Mondrians zusammen zu befragen. In einem ganz wunderbaren Pas de deux tauschen das Kölner Haus und das Haager Gemeentemuseum ihre Prunkstücke aus: Während das Kölner Picasso-Konvolut frisch katalogisiert in Den Haag gastiert, wird aus der niederländischen Hauptstadt ein eminenter Werkblock Piet Mondrians auf die Reise geschickt. 70 ausgewählte Gemälde und Zeichnungen gehören dazu, Kapitales, Wegweisendes aus dem Œuvre des Bahnbrechers der abstrakten Kunst: Von den Hauptwerken seiner »luminaristischen« Phase in den Jahren vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs – darunter natürlich die berühmten Darstellungen des Leuchtturms von Westkapelle, des Kirchturms von Domburg und der blutroten Windmühle – bis zum unvollendeten »Victory Boogie Woogie von 1944«, diesem grandiosen Fanal seiner künstlerischen und menschlichen Entwicklung, an dem der Maler bis zu seinem Tod im amerikanischem Exil arbeitete, im von ihm als Himmlisches Jerusalem erlebten und gefeierten New York. Man wird, derart gewichtig bestückt, nirgendwo einen besseren Überblick über das Schaffen Mondrian finden.
Es sei denn, natürlich, in Den Haag. Denn das Gemeentemuseum besitzt die mit Abstand größte und qualitätsvollste Sammlung mit Werken des Malers überhaupt. Rund 250 Gemälde und Papierarbeiten gehören dazu, aus all seinen Werkphasen, von den ersten Skizzen des Jünglings bis zum Schaffen der Reifezeit in den 20er und 30er Jahren. Ihr Schwerpunkt, auch mengenmäßig, liegt natürlich auf der in der holländischen Heimat verbrachten Periode: Auf Mondrians – weniger interessanten – Anfängen als Landschaftsmaler im Kielwasser der allzu bodenständigen »Haager Schule«, und dann, weit spektakulärer, auf den entscheidenden Jahren ab 1908, als sein Schaffen in fauvistisch anmutenden Farbgewittern um zugleich monu- mentalisierte und deutlich von der Wirklichkeit abstrahierte Formen kreist. In dieser künstlerisch entscheidenden Phase formiert sich übrigens auch, unter dem Einfluss der Theosophie und Rudolf Steiners, sein quasireligiöses Sendungsbewusstsein. Die »Neue Kunst« und das »Neue Leben«, das er ab 1917 mit den Weggefährten von der niederländischen Künstlergruppe »De Stijl« predigen und prophezeien wird, erhält hier ein weltanschauliches Fundament: Die radikale Modernität Piet Mondrians, dies ist ja die Pointe der ganzen Geschichte, verdankt sich im Wesentlichen einer besonders verquasten Esoterik – und dem bilderund sinnenfeindlichen Protestantismus, wie er seit Jahrhunderten besonders in den kalvinistischen Niederlanden verbreitet ist. Sein Werk, das doch zu den einflussreichsten und kraftvollsten Schöpfungen des letzten Jahrhunderts zählt, ist letztlich vor allem – ein Bildersturm. Im irdischen Paradies Piet Mondrians ist alles Natürliche, Undressierte und Ungezähmte ausgetrieben. Wie im Pariser Domizil des Malers: Es gab dort, gut sichtbar für alle Besucher, eine einzige einsame Pflanze im Blumentopf. Eine Plastikblume, deren Blätter der Meister weiß bemalt hatte: Grün passte einfach nicht in seinen am Reißbrett entworfenen Paradiesgarten. //
»Mondrian. Vom Abbild zum Bild«. 14. Dezember bis 30. März 2008. Katalog im Waanders Verlag 250 S., 24,95 €. Tel.: 0221/221-26165. www.museenkoeln.de/museum-ludwig