Es ist eine Untertreibung. Denn das, was sich im NRW Forum als »The heartbeat of fashion « aus der Sammlung F.C. Gundlach zur 150 Jahre umspannenden Jahrhundert-Reportage reiht, ist weit mehr als Mode-Fotografie. Oder ist es nur insofern, als sich – in den besten Beispielen, und dazu gehören viele der über 350 Aufnahmen von 100 Künstlern – über die modische Momentaufnahme hinaus Dokumente der Geistesgegenwart, kulturgeschichtliche Chiffren, deutungsschnelle Zeugnisse von Lebensstil und Ausdruck existenzieller Bedingtheit herausbilden: in selbst durchaus wirkungsmächtigen gesellschaftlichen Bezügen und Rückkoppelungen. Wie weit das Spektrum reicht, belegt, dass Arbeiten von Martin Kippenberger und Jürgen Klauke wie selbstverständlich in den Kontext passen, und Gundlach konstatiert, dass jemand, der das Genre »heute noch mit den Kategorien von Schönheit und Eleganz zu erfassen versucht, wird scheitern« müssen.
Franz Christian Gundlach, 1926 in Hessen geboren, ist Fotograf, den es Anfang der 50er Jahre nach Paris zog, bevor er in Hamburg ein eigenes Unternehmen mit Laboren und Studios gründete. Er wurde Galerist, Sammler, Kurator, Stifter, der sein Tun gewissermaßen als »biologisches Schicksal« betrachtet. Seit 2003 Gründungsdirektor des »Hauses der Photographie« in den Deichtorhallen Hamburg, stellt er seine bedeutende private Kollektion »Das Bild des Menschen in der Photographie« dem Hamburger Institut als Dauerleihgabe zur Verfügung. Aus diesem Bestand speiste sich zunächst die von Zdenek Felix vorgenommene Auswahl »Clear Vision«, gefolgt nun von dem durch Gundlach eingerichteten, als »subjektiver Extrakt« gewerteten Überblick »The heartbeat of fashion«. Man möchte die Schau nur ungern auf das Klischee gewordene Schlagwort »Mode als Zeitgeist« bringen. Zwar auch Projektionsfläche, Fluchtraum und Illusionsspender, sagen »Modephotographien mehr über eine Zeit aus, als Dokumentarphotographien, die vorgeben, Realität abgebildet zu haben«.
Doch einen Gegensatz zwischen Traumbild und Realitätsabbildung, zwischen individueller Behauptung und kollektiver Einfügung konstruieren zu wollen, wäre falsch. Ein Spannungsverhältnis zwischen diesen Polen der Modefotografie besteht zwar, aber ebenso Korrespondenzen; vergleichbar dem, was sich in der Ufa- Traumfabrik unter der Oberregie des Dr. Goebbels an Wirklichkeitsverschleierung vollzog, deren scheinbar ideologiefreie Muster jedoch genauesten Aufschluss über persönliche und politische Befindlichkeiten liefern.
Gundlachs Leidenschaft gilt dem »Bild des Menschen in seiner Wandelbarkeit und Verletzlichkeit, in seiner unverlierbaren Würde«. So gibt es in der Zusammenschau die reich vertretene und betörende L’art pour l’art eines George Hoyningen- Huene. Die statuenhaften, priesterlich entrückten oder fließend hingegossenen weiblichen »Objekte« des virtuosen Fotografen, der das asymmetrische Bild-Arrangement bevorzugte, haben ebenso viel Grandezza wie Josef von Sternbergs Filme mit Divine Dietrich. Nicht weniger neoklassischem Ideal verpflichtet sind die Aufnahmen seines Freundes und Schülers Horst P. Horst, der sich der Kamera des Mentors 1931 mit bloßem Oberkörper darbot, selbst im Banne des Antikischen stand und artifizielle Stillleben unter der Sonne von Hellas schuf. Und es gibt die Gegenführung. Ein frühes Beispiel veristischer, unmittelbarer Beobachtung – und zugleich das erste einer fotografischen Typologie überhaupt – sind Robert Adamsons (und David Octavius Hills) Porträts von 400 schottischen Pfarrern aus den 1840er Jahren, mithin acht Jahrzehnte bevor August Sander sein enzyklopädisches Projekt über »Menschen des 20. Jahrhunderts« anlegte. In späte Nähe dazu rückt Alfred Eisenstaedts Riege sechs älterer Damen während eines Jahrgangstreffens 1961, deren gleiche Kopfhaltung und uniforme Ausstattung mit Dauerwelle, Kopfputz, Brille und Perlenkette eine Vorstellung ihrer geistigen Haltung und ihres konventionellen Wesens erlauben. In Gundlachs Galerie der (vor allem weiblichen) Bildnisse lassen sich Rollenverständnis und Rollenwechsel nachvollziehen. Nach steifen, schematisch erfassten Studio-Sitzungen des 19. Jahrhunderts und ihren sepiafarbenen Ergebnissen sowie nach den kolorierten heroischen Posen der Belle Epoque scheinen sich plötzlich die Fesseln zu lösen. Die Garçonne befreit sich, der Vamp mit verhangenem Blick zieht seinen fatalen Bannkreis, das kunstseidene Mädchen und der Angestellten-Typus tauchen auf, das legendäre Profil der Garbo wirft Schatten (etwa 1930 auf Ernst Sandaus Studie der Leni Riefenstahl), Schlemmer-Figurinen machen schlagartig ihren Einfluss geltend. Indem sich nebeneinander das Patent-Burschikose, das Damenhafte und das tragisch Mondäne behaupten – sozusagen Ilse Werner und Lilian Harvey neben Olga Tschechowa und Zarah Leander –, wird gleichfalls deutlich, wie im Medium Werbung die Kino- Traummaschine die inszenierte Alltagswirklichkeit antreibt.
Auch in der Modefotografie setzt 1945 eine Zäsur, schafft die Stunde Null eine neue Zeitrechnung. Der New Look beschränkt sich eben nicht bloß auf Christian Dior. Die 50er Jahre suchen hier und da noch Anschluss an die ungebrochene Tradition des Vorkriegs. Dann aber kommt es heftig: Auf »Heartbreak folgt Heartattack «, wie die Ausstellung formuliert und rhythmisch betont. Das heißt: Auf das Drama von Schönheit und Harmonie, dem ein Richard Avedon vielleicht in »Dovima with Elephants« 1955 noch ironisch glamourös Referenz erweist und das William Klein oder Leon Levinstein mit herben Schwarzweiß-Offensiven aus dem Asphaltdschungel beantworten, folgt die Provokation, die Enthemmung, die Aufkündigung eines kulturell konformen (Dress-)Codes.
Die Jugendrevolte schneidet alte Zöpfe ab, reizt das Nervenkostüm und zwingt die Haute Couture herunter auf ein pseudo-demokratisches Level »in das Universum einer ökonomisch und sozial nivellierten Gesellschaft der Jüngeren«, so Peter V. Brinkemper in einem der Katalog-Aufsätze. Für diesen Norm auflösenden Bildersturm, der Anti-Ästhetiken, das Dynamische und auch das Hässliche goutiert, liefert als ein Vertreter Wolfgang Tillmans das Material bei seinen Streifzügen durch Londons Subkulturen. Distanzierungen heben sich scheinbar auf, suggerieren Direktheit und ungeschminkte Authentizität. Die Straße ersetzt den Laufsteg. Drogen, freie Liebe, weibliche Emanzipation, Black Power, Gay Proud, Gender-Studies besetzen auch visuell Themen, während parallel zunehmend der Reflex auf die bildende Kunst (Collage-Techniken, Verfremdungseffekte, Pop-Art- und Punk-Elemente, dokumentarische Ansätze) zu beobachten ist. Propaganda, PR und Politisierung lassen sich nicht mehr sauber trennen, wie 1994 in Oliviero Toscaninis skandalöser Benetton-Kampagne mit blutbeflecktem T-Shirt und Military- Hose aus dem Bosnienkrieg.
Dass die Politik selbst die Möglichkeiten des Bildes erkennt, sie als Strategieinstrument benutzt und das Medium zu manipulieren versteht, bis die vermeintlich authentische Ebene immer weniger von der synthetischen zu unterscheiden ist, hat eine lange Geschichte. An ihrem vorläufigen Schluss stehen Barbara Klemms und Herlinde Koelbls Physiognomien der Macht und Peter Lindberghs Monumental-Narzissmus eines Bundeskanzlers Schröder in Brioni: Perfektion und Perfidie der Selbstinszenierung. Was man auf den Fotografien neben historischen, sozialen, ästhetischen und sonstigen Bruchstellen und Übergängen studieren, entdekken, lustvoll vergleichen kann, ist die verdeckte oder offensichtliche Bezugnahme. Nicht anders als in den übrigen Künsten fallen Zitate, Querverweise, Bildmuster ins Auge. Die Akt-Fotografie, wie sie Man Rays abstrakte Geometrie eines Körpers (»Demain«, 1932) und Erwin Blumenfeld vertreten, findet Fortsetzung bis in die 90er Jahre (Paolo Roversi) oder bei Will McBrides konkreten Nudes und den skulptural modellierten Männer-Torsi des Robert Mapplethorpe. Wenn Guy Bourdin 1975 vor einer nachtschwarzen Limousine die Kreide-Umrisse eines Frauenkörpers am Boden markiert, verweist er auf den Polizeireporter Weegee und dessen forensische New Yorker Tatort-Besichtigungen. Bernhard Prinz scheint mit dem Doppelbildnis sportiver Damen (»Rhetorische Fragestellung«, 1988), das das Katalog-Cover ziert, zurückzublenden auf den Kraft-durch-Schönheit-Kult, der sich von der Wandervogel- und Nudistenbewegung bis in den Dienst am nationalsozialistisch vereinnahmten Volkstum verlängert (vertreten in Arbeiten von Kurt Reichert und Gerhard Riebicke aus den 20er und 30er Jahren). Cindy Shermans kaputte Blondie-Puppe in Jeans (1994) hat Vorfahren in Hans Bellmers versehrten, verrenkten Phantomen der Lust. Und vermutlich sind David La Chapelles überkandidelte, hyperkonnotierte, schockgrelle Kompositionen und ironischen Porträts wie das 2001 entstandene vom Ehepaar Taschen nicht ohne Helmut Newtons Inszenierungen sexueller Fantasien denkbar. Der wiederum war Schüler der Berliner Fotografin Yva. Und so weiter: die Fotografie als ein in X Facetten gesplitterter Spiegel. Ehrenhof
Ehrenhof 2; bis 24. März 2007. Katalog, Kerber Verlag, Bielefeld/Leipzig, 312 S., 48 €; Tel: 0211/89 266 90. www.nrw-forum.de