Von wegen, er will nur spielen. Wer sich allein durch seine Internetseite klickt oder seine ellenlangen Booklet-Kommentare abarbeitet, bekommt erst einmal eine geistesgeschichtlich umfassende Unterweisung. Von Goethe über Freud bis zu Reflexionen über Beethovens Neunte. Und als ob das nicht alles zunächst verdaut werden muss, legt Brad Mehldau im Vier-Augen-Gespräch noch nach, wenn er bildungsbürgerlich gestählt Rilke oder Thomas Mann zitiert – auf Deutsch natürlich. Aber schließlich ist das punkt- und kommagenaue Schmökern neben dem Jazz ja Mehldaus zweite Leidenschaft. Weil es für ihn eng mit der Musik zusammenhängt: »Wenn man bereit ist, jemandem wirklich in seinem Text zu folgen, ist das wie aufmerksames Zuhören.«Vom vielen Studieren ist der aus dem sonnigen Florida stammende Mehldau zwar ziemlich käseweiß um die Nase geworden. Dafür sprudeln seine eigenen Geschichten nicht weniger gehaltvoll aus ihm heraus, wenn er sich so seine Gedanken am Jazz-Klavier macht. Kaum hat sich dieser Schlacks irgendwie zwischen Stuhl und Tasten einsortiert, fängt sein Herz- Rhythmus-System schon an zu pumpen. In einer geradezu autistisch wirkenden Weltabgewandtheit improvisiert er über Melodie-Keimzellen in epischer Breite und gelegentlich über zwanzig Minuten lang. Dann wieder versenkt er sich kopfüber in elegischer Intimität, in die er kunstvoll gestaltete Arabesken einlässt. Um plötzlich virtuos in die Vollen zu greifen und für überraschenden Drall zu sorgen. Mit hundsgemeinen Synkopen, kalligrafisch zerhäckselten Tonskalen und vor allem mit seinem typisch federnden Groove.
Ob nun in den guten alten Jazz-Standards oder in den Coverversionen der jüngeren Pop- und Rock-Geschichte – wenn der 37-Jährige diesen Ohrwürmern die Hände auflegt, erleben sie bei ihm weniger eine Wieder- als vielmehr eine Neugeburt. Denn trotz des bisweilen kernigen Swings schimmert irgendwie immer dieser markante, melancholisch verhangene Mehldau- Sound heraus, scheint bei ihm selbst eine Träne durch solche positiv gestimmten Jazz-Klassiker wie Harold Arlens »Get Happy« und Chaplins »Smile« zu kullern. Nicht nur da entpuppt sich Mehldau als ein romantischer Tasten-Wanderer, dessen Hang zu Liedern ohne Worte sich gleichermaßen in den Titeln seiner Eigenkompositionen wie »Mignon’s Song« und »Sehnsucht« widerspiegelt. »Es gibt im Deutschen den Begriff Sehnsucht, der mit dem englischen ›longing‹ nur unzureichend übersetzt ist. Es ist dieses ewige Streben nach dem, wo man gerade nicht ist.« Für diese Suche ist Mehldau zum sensiblen, komponierenden Interpreten geworden, dessen Ton dabei so einnehmend vertraut wie sonderlich geheimnisvoll daherkommt und somit seine Wirkung nicht verfehlt: beim Publikum, das vom anti-glamourösen Mehldau zwischendurch höchstens mal ein schüchternes Lächeln geschenkt bekommt.
In der Belle Etage des Jazz ist er inzwischen mit offenen Armen von Instanzen wie Charlie Haden, Charles Lloyd und Pat Metheny empfangen worden. Dreh- und Angelpunkt ist jedoch sein Projekt »The Art of the Trio« geblieben. Mit dem Bassisten Larry Grenadier und dem Schlagzeuger Jeff Ballard, der 2005 Jorge Rossy am Schlagzeug ersetzte, bildet er ein perfekt verzahntes Leichtlauf-Getriebe, wenn es um die Hits von Cole Porter oder der Beatles geht. Weshalb anfängliche Zweifel, hier versuche jemand vielleicht nur, in der klassischsten aller Jazz-Formationen in die übergroßen Fußstapfen eines Bill Evans oder Keith Jarrett zu treten, längst verflogen sind.
Mehldau hat sich aber auch nie als Epigone empfunden. »Es gibt natürlich einige offensichtliche Anknüpfungspunkte für solche Vergleiche. Beispielsweise die Qualität der Interaktion, die zwischen uns stattfindet, und natürlich war Bill Evans da ein großer Wegbereiter. Aber harmonisch haben wir nicht viel gemein. John Coltrane, Charlie Parker, Miles oder Billie Holiday haben weit größeren Einfluss auf mich als viele Pianisten.« Da er andererseits mit einer solch musikwissenschaftlich motivierten Spurensuche eher Probleme hat, führt Mehldau gleich noch ein eher ernüchterndes, formales Argument an: »Ich habe keinen sonderlichen Respekt vor dem Trio-Idiom. Ich mag diese Besetzung aus ziemlich uninteressanten egoistischen Gründen: Ich bin da der Bandleader.«Seit zwölf Jahren ist Mehldau nun Chef und Wunderknabe in einer Person. Dabei hatte seine Karriere ganz unspektakulär begonnen. Geboren 1970 in Jacksonville/Florida, folgte nach dem ersten Klavierunterricht mit fünf Jahren die traditionelle Ochsentour. Durch die akademischen Institutionen (Berklee College of Music), kleine Jazz-Clubs und so manche Pizza-Bude, wo er sich als Aushilfsbäcker das Kleingeld dazu verdienen musste.
Als Mehldau endlich seinen ersten großen Job 1994 beim Saxofonisten Joshua Redman antrat, war der gleich auch wieder beendet – wegen übermäßigen Drogenkonsums. Als einziges Relikt aus jenen verschwommenen Tagen hat nur der tätowierte Drache überlebt, der sich wild über seinen Oberarm schlängelt.
Dass Mehldau damals jedoch schnell die Kurve zurück ins pralle Jazz- Leben nahm, verdankte er nicht zuletzt Jorge Rossy und Larry Grenadier, mit denen er 1995 das »Art of the Trio«-Konzept entwickelte. Im Gegensatz zu vielen gleichaltrigen Neo-Traditionalisten, die vor dem prominent besetzten Jazz-Archiv in handwerklicher Ehrfurcht erstarren, zieht Mehldau seitdem auf der Suche nach dem Neuen im Alten weite Kreise. So stehen sich Gershwins »Someone to Watch Over Me«, eine düstere Ballade des Rock-Poeten Nick Drake oder ein Pop-Mantra von »Radiohead« nicht etwa gegenüber. Sie führen miteinander ein genauso harmonisches Dasein, wie Mehldau die Bebop-Legende Thelonious Monk sogar mit der »Peanuts«- Titelmelodie vertraut machen kann. Jazz ist eben nicht nur eine Frage des Stils, sondern der reflektierten Gesprächskultur. Auch das will Mehldau aus der befruchtenden Goethe-Lektüre gelernt haben. //
Brad Mehldau Trio, 17. November, Kölner Philharmonie; www.koelner-philharmonie.de