Weisen Sie sich aus! Dabei hätte man einen Ausweis eigentlich von Seiten der Intendanz erwartet, der die künstlerische Identität von Karin Beier und ihrem Kölner Schauspiel-Start bezeichnet. Den gab es auch – dazu später.
Indes muss zunächst der Besucher von »Ruby Town« selbst am Einlass seine Papiere vorlegen, einen Checkpoint passieren, seinen Fingerabdruck nehmen und sich eine Art Visum stempeln lassen. Wir sind im Theater. Aber es sieht aus wie die Wirklichkeit, und die will Beiers Team und Konzept programmatisch ins Haus holen.
»Ruby Town« in der wiedereröffneten Schauspiel-Halle Kalk ist eine soziale Plastik, eine interaktive Performance, die Antwort auf »Big Brother« mit kunstkritischen Mitteln. Ein tolles Lehr- als Schaustück. Das dänisch-österreichische Duo Signa hat ein Camp errichtet, ein echtes Budendorf, schäbig, schmuddelig, armselig. Dort wohnt während der Langzeit-Installation die Sippe der 1913 angeblich spurlos in Rumänien verschwundenen »Martha Rubin«, deren »Erscheinungen« dem Projekt den Titel geben. Eine ominöse Hellseherin, die in einer der Baracken umhegt vor sich hin lebt, mit ihren zahlreichen Nachkommen in dem Lager zwischen »Nordund Südstaaten« gettoisiert. Warum die Isolationshaft? Sind es Schutzbefohlene oder Opfer eines Systems? Unfruchtbar alle, seit vielen Jahren, lässt sich nur spekulieren, ob der Clan vielleicht nuklear verseucht, einer Sekte zugehörig oder inzestuös in Familienbanden verstrickt ist.
Der Zuschauer sollte hier nicht den Flaneur im Menschenpark spielen und wie unbeteiligt durch die Gassen streifen. Er muss sein inneres Kontaktsperregesetz aufheben, muss offensiv und investigativ werden: in Dialog treten, nachhaken, mittun an der Bar, im Friseursalon oder
in der Peepshow. Womit er sich auch gewissermaßen anteilig der Gegenseite nähert, den uniformierten Patrouillen.
Es wird ungemütlich. Die Beklemmung wirkt umso stärker, als Begründungen fehlen. »Ruby Town« ist eine Metapher für Katastrophen der Neuzeit und deren Gestaltung: Gulag, KZ, Zonengrenze, Township, Colonia Dignidad, Dogville usw. Die (gecasteten) Bewohner dieser Simulation eines sozialen Experiments, das zumindest während seiner Spieldauer echt ist, sind sanft, freundlich, zutraulich, aber irgendwie unmündig: Sie bieten sich feil, saufen Wodka – Verbote fruchten nichts, wie die Soldaten versichern. Ahnungen überkommen einen von einem Regime des ehemaligen Ostblocks, einer südamerikanischen Diktatur, einer finsteren Telenovela oder einem Filmset des Lars von Trier. Man nimmt »Ruby Town« mit nach draußen. Unter freiem Himmel atmet man durch. Der Bann hält noch lange.
Das ist viel mehr, als sich von »Heute: Raum Lumina« sagen lässt, der »Ruby Towns« enge Begrenzung in die Entgrenzung überführt. Vincent Crowleys Choreografie verwandelt mit Hilfe von Mark Howetts Bühne das Schauspielhaus in eine wohltemperierte Gegenwelt zu dem verlotterten Lager: säuselnd, sanft, schallschluckend, wattig. Eine Hoteletage, ein Kongresscenter, ein Seminarsaal? Sieben idealtypisierte Personen, Klienten oder Probanden, versammeln sich zu einer Zeitreise, bereit, ihre »Behälter« zu verlassen und den Erdenkloß gegen den Astralleib einzutauschen, was zu allerlei seltsamen Zuständen, Schütteln und Verrenken, Übungen des Schwerelosen und akrobatischen Aktionen führt. Seelische Wellness kann auch eine Art totalitärer Ideologie sein. Eine ziemlich diffuse und marginale Sache, wer weiß, ob esoterisch oder ironisch gegenüber Eskapismen und Psycho-Powerplays. Zurück zum wahren Leben. Acht Stunden sind kein Tag. Diese Rechnung bezieht sich auf die Maloche und die Zeit, die dann noch bleibt. Rainer Werner Fassbinders WDR-Fernsehserie von 1972 schmuggelte in die Familienunterhaltung der siebziger Jahre Konterbande. Im Jahr darauf ereignete sich ein Streik im Ford-Werk, Niehl. Türkischen »Gastarbeitern« wurde gekündigt, nachdem sie verspätet aus dem Urlaub zurückgekehrt waren, das Problem mit polizeilichen Mitteln gelöst, der Arbeitskampf unterdrückt. Solidarität innerhalb der Arbeiterschaft und mit Hilfe der Gewerkschaft war eher eine schöne Illusion. Das gesunde Volksempfinden machte sich in seinem Zentralorgan Luft: »Gastarbeiter kommt von Gast. Ein Gast, der sich schlecht beträgt, gehört vor die Tür gesetzt.«
Blau leuchtet in der Halle Kalk das ovale Ford-Emblem. Kölner Markenzeichen seit 1931. Der Chef des Unternehmens, Henry Ford, hatte drei Jahre vor Eröffnung seines deutschen Betriebs im Urwald des Amazonas die künstliche Stadt »Fordlandia« gegründet, als sei er ein Fitzcarraldo des 20. Jahrhunderts. Der Zeitgeist-Plauderer und Alleinunterhalter Jürgen Kuttner sowie der Theatermacher Tom Kühnel installieren ein ambulantes »Fordlandia«. Ihre »Fließbandproduktion« untersucht soziale und kulturelle Differenzen mit den Mitteln der Komödie, darin Beiers Spielzeit-Motto »Fremdheit und Migration« konkret aufnehmend.
Kuttner & Kühnel dokumentieren, collagieren, montieren und fingieren, lippensynchron zu Originalaufnahmen und historischen Reportagen, doppelt und dreifach gebrochen. Das Fünfer-Ensemble maskiert sich mit Perücken und falschen Bärten, als sei Günter Wallraff als Türke Ali von ganz unten unterwegs. Zunächst wird eine Familiensaga erzählt: Henry Fords Sterbestunde und das unwillig abgetretene Erbe an Henry Ford II., seinen Enkel. Der Auto-Magnat (eine putzige puritanisch grauköpfige Puppe in der Hand von Puppenmutter Suse Wächter) wird als guter oder böser Geist weiter durch die Aufführung wesen und das Steuer nicht aus der Hand geben.
Tom Kühnel dreht hübsch unaufwändig am Rad, sein Bühnenbildner Jo Schramm bringt Bewegung ins Spiel, indem er an einem Laufband Kulissen aufhängt und mit wenigen Requisiten eine Hütte in Anatolien, ein Wohnheim für ausländische Arbeitskräfte oder ein Proleten-Wohnzimmer im Stil der Fussbroichs einschweben lässt. Die Szenen aus dem sozialen Reservat peppen sich zur sketchartigen Relevanz-Revue auf: scheiternde Integrationsmaßnahmen; Mentalitätsunterschiede zwischen West- und Südeuropa; diverse Management-Konzepte und im Nachhinein nahezu idyllisch wirkende Arbeitsleben-Beschreibungen aus der guten alten Bundesrepublik, als Helmut Schmidt Kanzler, Eugen Loderer IG Metall-Chef war und tatsächlich noch Karl Marx als Gespenst in Europa umging. Das Ganze zieht sich, vor allem dann, wenn’s ernst wird. Akkord hätte da geholfen. Karin Beier, die sich vorgenommen hatte, in ihrer Auftakt-Saison »ohne einen Wittenbrink-Abend« auszukommen, mogelt sich von der anderen Rheinseite her etwas Ähnliches ins Repertoire, mit Freddy, Heintje und den Puhdies: einen Unterhaltungsabend, dürftig im Konzept, lustig in der Durchführung. Fassbinder war damals schon weiter.
Nun aber zum Zentrum des Eröffnungs-Zyklus: den »Nibelungen«. Der Stoff ist Allgemeingut; er lässt sich voraussetzen. Man wirft sich auf der Bühne Stichworte zu: Isenland – der Drache – die Vogelsprache. Die Sage springt von Mund zu Mund. Sie liegt im kollektiven Unbewussten wie der Goldhort im Rhein; Hebbels deutsches Trauerspiel hat eine Ahnenreihe von der höfischen Dichtung um 1200 bis zu Wagners Tetralogie und Fritz Langs Film. Beier beginnt ihre Inszenierung nicht mit gelebter, sondern als erzählte Geschichte, episch statt dramatisch. Hält damit auf Abstand zu unmittelbarer Ereignishaftigkeit und mindert zugleich die Distanz, indem sie mythischen Ballast und nationales Erbe leichthin schultert. Noch meint man sich im Prolog und ist schon in einem Dynasty-Drama: beim Kampf um Brunhild. Das »Sieg, Sieg, Sieg« über die jungfräuliche »Riesin« (Maja Schöne als hechelndes, schnüffelndes Naturwesen) klingt, als würde das Wunder von Bern ausgerufen. Der Held heißt Siegfried (Carlo Ljubek), der im Show-Run mit Liegestütz und Schwarzenegger-Pose eine Kraft-Choreografie hintänzelt: Ballack-Bomber, Spaßvögler und hübscher Hahn.
Der Hof zu Burgund nimmt’s gelassen. Dort regieren Pragmatismus, Sachzwänge, Taktik und PR-Strategien. Und das ist auch gut so. Gunther (Michael Weber) steht wenig mannhaft für nichts als den Kompromiss und schaut weg, wenn’s weh tut: bei Siegfrieds Schlachtung. Dessen Mörder Hagen (Michael Wittenborn: faszinierend in seinem Charisma des Uncharismatischen) trägt das Graugesicht der Realpolitik, redlich und trocken wie Müntefering. Auf dem Trimmrad macht er sich fit für das Auswärtige Amt.
Bis »Kriemhilds Rache« beginnt, herrscht die instrumentelle Vernunft: auch bei der Regisseurin. Nicht mal der deutsche Wald bietet noch ein Kein schaler Küchenrealismus, sondern beklemmend im real-fiktionalen Kunstkontext: er ist gezüchtet in der Baumschule. Beiers Stück-Fassung räumt ideologische Hürden aus dem deutschen Sonderweg; entsprechend dezimiert sie kräftig das Personal, mustert die Nibelungen bis auf fünf, die Hunnen bis auf drei Mannen aus. Zugleich legt Thomas Dreißigacker den nur mit Sperrholzpodien bebauten Raum frei und erweitert ihn mit einem Steg mitten ins Schauspielhaus-Parkett.
Die dreieinhalbstündige Aufführung bündelt Beiers Stärken und offenbart ihre Schwächen. Bildmächtig, energievoll, phantasiebegabt, vielleicht etwas flach, aber sehr fix und gewitzt (wenn Kriemhild und Brunhild den Zickenkrieg haushaltstechnisch ausbügeln), schafft ihr Timing elastische Übergänge. Sie riskiert brutale Schnitte, kühlt politisch herab, heizt psychologisch, selten melodramatisch auf. Beiers musikalischen Rhythmus verstärken noch fünf Musiker, die den Kultur-Clash zwischen Europa und dem Asien der Hunnen vorgeigen, blasen, trompeten und trommeln.
In Hebbels Schluss-Teil aber verlassen Beier alle guten Geister. Sie weckt die Dämonen. Die Wormser Demokratie, nun der ökonomisch kranke Mann am Rhein, dreht durch. Parolen und Propaganda. Heuchelt von »Enduring Freedom«, will Neue Märkte erobern, schützt die Moral der Werte vor und wittert die gelbe Gefahr der »Heuschrecken«. Im China-kitschigen Lotusgarten Etzels (Josef Ostendorf als röchelnd sanfter Koloss auf Krücken) verfallen die Kreuzzügler Rassedünkel und NS-Pathos. Historische Wirrnis: Alles mischt sich, nichts klärt sich. Erst ganz am Ende, wenn die kannibalische schwarze Witwe Kriemhild (Patrycia Ziolkowska) und die sich selbst höhnend als Schlampe maskierende Brunhild als zwei Untote kreisend in die Irre gehen, führt Beier ihre »Nibelungen« wieder stringent heim ins Reich des privaten, sexualpathologischen Konflikts.
Jenseits aller Vorbehalte, für Köln ist es eine fulminante Rückkehr auf die Bühne der Theaterrepublik, auch dank des hervorragenden Ensembles, in dessen Zentrum die in Hassliebe ineinander verschlungenen Kontrahenten Kriemhild und Hagen stehen. So schien der fanatische Gesang des »Tomorrow belongs to me« (aus Bob Fosses »Cabaret«) weniger Ausdruck von Nazi-Gesinnung der Nibelungen als das Künden heroischer Zeiten für Beiers Intendanz. //