»Das Mozart-Jubiläum ist verschmerzt und blieb von durchschlagender Folgenlosigkeit: Selbst eifrigste Bemühungen entdeckten kein zu Unrecht vergessenes Geniestück. Befestigt wurde der Ausnahmerang des Himmelssohnes, der letztlich unbegreiflich und immun gegen Abnutzungserscheinungen scheint. Doch im Riesen-Oeuvre des Meisters gibt es auch blinde Flecken wie etwa die als sperrig geltenden Seria-Opern: »Idomeneo« wird ab und an gespielt, »Titus« gerade wiederentdeckt, aber »Lucio Silla« und »Mitridate« umgeht das Repertoire höflich. Mit der Reihe »Mozarts Herrscheropern« stellt sich das Theater Aachen in Koproduktion mit Freiburg seit zwei Jahren mutig der Aufgabe, diese vernachlässigten Werke zusammen zu binden. Im Zentrum der vier Opern – und damit der Aachener Dramaturgie – stehen Gestalten, die Identifikations- und Machtkonflikte durchleben und die eigene Legitimation problematisieren. Nun also Mozarts »Mitridate, re di Ponto«, von ihm mit vierzehn Jahren zu Papier gebracht. Knapp drei Stunden Musik, die stellenweise routiniert, aber auch überraschend reif, originell und hellsichtig klingt.
Der komponierende Teenager muss ein erstaunliches Ensemble zur Verfügung gehabt haben; denn es sind ausnahmslos Koloratur bewegliche, enorm höhensichere Stimmen gefragt – nur Frauenstimmen bis auf einen Tenor. Die hat GMD Marcus Bosch in einer jugendlich schlanken Luxusbesetzung zusammengestellt, trefflich einstudiert und aufeinander eingeschworen. Das Aachener Orchester, das unlängst einen entschlackten, zupackenden Wagner spielte, zeigt auch hier bemerkenswerten Stilwillen. Historisch informiert, ist es sparsam in der Tongebung, orientiert an der barocken Tradition, in der sich der frühe Mozart noch befindet. Doch findet Bosch zu einem empfindsam zerbrechlichen Ton, der lange da capo-Arien nicht lang wirken lässt. Unterstützt wird er von Ludger Engels präziser, kaum auftrumpfender, doch gewitzter Regie, die aus der Geschichte über den misstrauischen König Mitridate und seine Söhne Farnace und Sifare eine zeitlos aktuelle Parabel vom Generationenwechsel macht. Das Dekor deutet die 1960er Jahre an, als Lederblousons ein Ausweis der »Easy Rider«-Rebellion waren. Der Vater, der die Nachkommen mit seinem fingierten Tod prüfen will und sie mit seiner jungen Braut zudem in Liebeswirren bringt, fällt dem Verfolgungswahn des Herrschenden selbst zum Opfer (von Tenor Juhan Tralla in einer packenden Studie entwickelt). Zarte Sopranspitzen tupft virtuos Aleksandra Zamojska als Aspasia hin, glänzend komplettiert durch Johanna Stojkovic und Iva Danova in den Sohnes-Rollen. Ein künstlerisch stimmiger Abend im weiterhin aufstrebenden Aachener Haus. REM