Dietrich Hilsdorf ist ein Meister in der Dekonstruktion von Repertoire-Klassikern. An Puccini hat er sich bereits abgearbeitet: In »Tosca« ließ er den gemeuchelten Scarpia als Zombie weiterleben, bei »Il Trittico« stellte er die übliche Reihenfolge der Einakter frech auf den Kopf (beides an der Rheinoper). In Bonn »schändet« er jetzt das Heiligtum »La Bohème«, jene Künstler- und Weihnachtsoper mit Rührfaktor, das dem Regietheater eigentlich wenig Angriffsfläche bietet.
Auf den ersten Blick sieht denn auch alles fast so aus, wie erwartet: ein schäbiger, grauer Dachboden, in dem vier arme Schlucker im Sperrmüll hausen und sich die klammen Hände reiben. Im Paris der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg befindet sich die Männer-WG, die mehr ist als bloße Zweckgemeinschaft. Die Herren Künstler haben hochtrabende Pläne und stehen im regen kreativen Austausch. Neben dem zähen Alltagskampf sucht das Quartett nach künstlerisch verwertbaren Erfahrungen. Da kommt die zarte Mimi – todkrank, aber lebenslustig – gerade recht. Eher vorsätzlich und wenig zimperlich führt sie in ihrer Bonner Gestalt die amouröse Begegnung mit dem Dichter-Kauz Rodolfo herbei; die mondäne Musetta, die mit Maler Marcello lustvoll Katz und Maus spielt, stellt als zweite Muse Mimis vitales Gegenbild zur Schau.
Alsbald legt sich Frost über die Inszenierung, nicht ob des Pariser Winters, sondern angesichts der experimentellen Kälte, mit der die Kunst-Vampire Mimi interessiert beim Sterben zuschauen und ihre Gefühle kreativ verarbeiten und mit Gewinn nutzbar machen, wie ein Epilog auflistet. Mimi, von Hilsdorf eingeführt mit einem Horváth-Zitat, als Beuteopfer. Aber zugleich nimmt sie sich auch, was sie kriegen kann. Kaum dass sie Rodolfo im ersten Akt ewige Liebe schwur, greift sie sich im Gewühl des Café Momus einen Anderen und verlässt später den armen Poeten, der in einer Zinkbadewanne dichtet, wegen eines gelackten Grafen.
So mischen sich Bitterstoffe in die süßeste der Puccini-Opern, indem deutlich – bis überdeutlich – die soziale und emotionale Verwahrlosung einer Verlorenen Generation demonstriert wird. Wobei Hilsdorf bisweilen das von ihm gewohnte Geschick und inhaltliche Stringenz vermissen lässt; manches wirkt sehr gewollt. Musikalisch gibt es fast nur Gutes zu hören. Erich Wächter bietet mit dem Beethoven-Orchester entfetteten Klang und forsche, unsentimentale Tempi. Langes Verweilen auf schönen Stellen gestattet er auch dem jugendlich frischen Sänger-Ensemble nicht. Julia Kameniks Mimi klingt vielleicht eine Spur zu hell, entwickelt aber schöne Leuchtkraft, Bülent Külekci als Rodolfo singt kernig, Sigrún Pálmadóttirs Musetta etwas scharf, Aris Argiris ist ein sonor tönender Marcello.
Am Essener Aalto-Theater geht Tilman Knabe brachial Puccinis unvollendeter »Turandot« ans Leben. Das Spätwerk holt er in die Gegenwart einer Militärdiktatur; der Spielort ist eine Art Bunker, eine unwirtlich zugige Baustelle. Die Dekors rufen China auf, der König (besser Oberst) Altoum ähnelt Pinochet zum Verwechseln. Prinz Kalaf, ein Brutalo in Cargohose, der sich in eisiger Präzision an die Macht bringen will (Dario Volonté), scheint an der gefürchteten Prinzessin Turandot nicht sonderlich interessiert, so wie er sie sich später vergewaltigend gefügig macht. Mit Strickjäckchen und Blüschen wirkt sie wie die Sekretärin eines mittelständischen Unternehmers. Drumherum tummelt sich Militär und hält das verrohte Volk in Schach, das sich auf Drogenpartys amüsiert und bei den öffentlichen Hinrichtungen den Kick holt. Eine Welt der Repression, in der Spitzeltum und gar Kannibalismus herrschen und die Liebe bestenfalls als Vorwand dient, die hässlichsten Dinge zu tun.
Der Regisseur, der weder dem Märchen noch der Liebe traut, blendet Folklore und den Weichzeichner der Exotik aus und reduziert die Geschichte auf ihren Gewaltkern. Die inhaltlichen Verrückungen, die durch Übertitel geschickt gestützt werden, geben dem Abend zwingende Logik und dramaturgische Konsequenz, freilich auf Kosten einiger Ambivalenzen. Konzentrierte Personführung und hohes Tempo verbinden sich mit der Musik, die Stefan Soltesz mit gewohnter Grandezza steuert. Bisweilen gehen ihm und dem Orchester allerdings die Zügel durch, zugunsten breit gepinselter Klangpracht mangelt es dann an Tiefenschärfe und Delikatesse. Grandios der viel beschäftigte Chor, die Solisten sind bestens präpariert, vollkommen überzeugt jedoch nur Olga Mykytenkos leuchtende Liu; Iréne Theorin als Turandot kämpft mit Anlaufproblemen und gelegentlich unfokussierter Stimmgebung. Puccini jedenfalls ist an Rhein und Ruhr keine Süßigkeit. //