Im Jahre 1937 geschieht folgendes: Otto Pankok stellt seine große Kohlezeichnung »Liquidiert« fertig, auf der ein ermordeter Zigeuner mit furchtbar aufgerissenem Mund auf dem Rücken liegt. Der neusachliche Maler Georg Schrimpf, von den Nationalsozialisten aus der Berliner Akademie geworfen, stirbt an Herzversagen. Der bologneser Futurist Tato (Guglielmo Sansoni) feiert in seinem Gemälde »Lufteinsatz« die Überlegenheit eines Bombers in den Wolken. Joan Miró veröffentlicht ein Plakat, das mit bunt-fröhlicher Farbmacht »Aidez l’Espagne« ruft. Auch Oskar Kokoschkas zart-wilde Gouache »Helft den baskischen Kindern!« fleht um Hilfe, um Aufnahme von Flüchtlingen in Böhmen, wohin er selbst geflohen ist. In Berlin veröffentlicht der deutsche Maler Wolfgang Willrich sein Buch »Säuberung des Kunsttempels. Eine kunstpolitische Kampfschrift zur Gesundung deutscher Kunst im Geiste nordischer Art«. Der sowjetrussische Fotograf Iwan Schagin hält den Moment fest, da ein Panzerfahrer vor der Kate eines Bauern mit Tolstoi-Bart stoppt. In München eröffnen kurz hintereinander zwei Ausstellungen: die »Große Deutsche Kunstausstellung«, die die ästhetischen Dogmen der Nazis feiert; sowie die Hetz-Schau »Entartete Kunst«, in der die beschlagnahmten Werke der Moderne verhöhnt werden – in mindesten einem Fall (Rudolf Belling) ist ein Künstler auf beiden Ausstellungen vertreten.
1937 ist in der Kunst das Jahr sich verschärfender, unlösbarer Konflikte, das Jahr des Zusammenpralls. In der Bielefelder Kunsthalle ist dieser Antagonismus derzeit umfassend wiederaufgebaut: »1937. Perfektion und Zerstörung« heißt die Schau, die einen guten Synchronschnitt zeigt der künstlerischen Auffassungen jener Jahre nicht nur in Deutschland, sondern auch in Spanien, Frankreich, Italien, den USA und der Sowjetunion – 408 Bilder von 180 Malern, Bildhauern, Fotografen mit Leihgaben aus über 120 Museen und Privatsammlungen.
1937 ist die Kunst denkbar divergent: abstrakt, sachlich, gegenständlich, erzählend, kubistisch, surrealistisch, verspielt, düster, engagiert, esoterisch – all diese Richtungen könnten koexistieren, zwänge nicht die sich verschärfende politische Lage viele Künstler dazu, Stellung zu beziehen. Der Ernst der Lage drückt sich schlagartig in einem Ereignis aus, das die Jahreszahl im Bielefelder Ausstellungstitel vorgab und das die leere Mitte der gesamten Ausstellung darstellt: Guernica. Am 26. April 1937 bombardieren deutsche Flugzeuge die baskische Stadt im Spanischen Bürgerkrieg und zerstören sie fast völlig. Bald danach beginnt Pablo Picasso mit seinem Kolossalgemälde gleichen Namens, das zu dem Bild der Anklage gegen (Staats-)Terror werden wird. Das Ereignis selbst und – ähnlich selbstverständlich – das Bild mit seinen knapp acht mal vier Metern sind in Bielefeld nicht dabei; nur fünf kleine Fotografien der Picasso-Freundin Dora Maar, die die Bildentstehung dokumentieren. Doch dies ist kein Mangel, kann doch die Ausstellung, die Kunsthallen-Chef Thomas Kellein kuratiert hat, an zahlreichen Beispielen nur allzu deutlich machen, wie sehr in den Jahren um 1937 Verfinsterung und Erstarrung, Warnung, Anklage und Angst in die Kunst einziehen. Welche Ausdrucksvielfalt zum andern durch den nationalsozialistischen Modernehass zertreten, welch erhellende Darstellungskraft ausgelöscht werden soll.
Vor Kelleins Kunsthalle sitzt, überlebensgroß, Auguste Rodins »Denker«. Drinnen im Entree steht, ebenfalls überlebensgroß, Arno Brekers »Prometheus«, auch er aus dem Jahre 1937. Die Skulptur umgeben Bilder von Karl Schmidt-Rottluff, Christian Rohlfs und Ernst Ludwig Kirchner, die im selben Achsenjahr konfisziert und »entartet« gestempelt wurden. Sinnfälliger könnte auf ein paar Metern, in einem einzigen Rundblick nicht demonstriert werden, wohin es in Deutschland ab 1933 gehen sollte. Freilich ging es nicht so ohne weiteres. So wurde nicht nur die erste »Große Deutsche Kunstausstellung« wegen mangelnder Qualität in ihrem Umfang von Hitler selbst stark reduziert, auch malten die meisten der verfemten Künstler heimlich weiter auf ihre »entartete« Art (selbst Emil Nolde, der, neben Schmidt-Rottluff und Edwin Scharf, zu den dreien gehörte, gegen die tatsächlich ein Arbeitsverbot verhängt wurde). Wenn sie nicht emigrierten wie der erwähnte Kokoschka oder Max Beckmann und George Grosz, um im Ausland das Werk der Moderne fortzusetzen. Im Reich gebliebene Künstler wurden drangsaliert, verhaftet, deportiert – nach dem Ende der Naziherrschaft war die deutsche Kunstszene an Zahl dezimiert, an Gehalt fast vernichtet, konnte an die Vor-Nazizeit nicht mehr anknüpfen. Worum aber ging es den Nazis in ästhetischer Hinsicht, wollten sie wirklich eine andere Kunst? Gerade die paar Schritte von Rodin zu Breker und den hinter seinem »Prometheus« hängenden Bildern von Nazi-Malern wie Max Bergmann oder Ivo Saliger machen klar: Die Nazis wollten die Abschaffung der Kunst im neuzeitlichen Sinn, wollten Dekoration, Bebilderung ihrer Politik. Weswegen Kellein im Ausstellungskatalog Bergmann & Co. zu viel der Ehre tut, wenn er ihren Werken ein »Pathos des Wartens« attestiert, des Wartens auf den Befehl, auf den Gang in den Untergang. Wüsste man nicht, dass Saligers »Die Rast der Diana« etwa von einem Nazimaler stammt, man würde das Bild einfach auf den Sperrmüll geben – so semantisch leer ist es, so bar jeden Ausdrucks, jeder Spannung. Was auch schon alles ist, was über Brekers Plastiken zu sagen wäre. Auf den ersten Blick macht ja Aristide Maillol (ein Stockwerk höher) zur selben Zeit formal kaum etwas anderes als Breker; auf den zweiten aber eben doch, und zwar das Entscheidende: Seine »Pomona«, die hier zu sehen ist, besitzt genau das überreich, was Brekers »Prometheus« abgeht: der ästhetische Überschuss.
Viele Bilder der 1937er Jahre, die in Bielefeld auf drei Etagen versammelt sind, warnen vor kommendem Unheil: In Richard Oelzes berühmter »Erwartung« zeigt es sich als dunkle, gestaltlose Wolke, zu der eine reglose Menschenschar aufblickt; in Anton Räderscheidts »Apollo und Daphne« als zerstückte Frau; in Peter Weiss’ »Das große Welttheater« als Altdorfer-ähnliche Szene vielfacher Quälerei; in Karl Hofers »Mann in Ruinen« als das, zu dem Deutschlands Städte dann wurden: eine Trümmerlandschaft. Oder es tritt in vielfacher Gestalt der Leviathan auf den Plan (Magnus Zeller, Rudolf Schlichter, Heinz Lohmar). Man fragt sich: Gab es einen Markt für diese Bilder, wer sah sie im »Dritten Reich«? Oder dienten sie hauptsächlich der inneren Druckentlastung der Künstler? Und: Warum geht Oelze 1936 aus Paris nach Deutschland zurück? Die Antwort könnte die sein, die auch erklärt, warum es, wie die Ausstellung unübersehbar zeigt, in jenen Jahren eineallgemeine Verdunkelung des Zukunftshorizonts gab, eine allgemeine Unsicherheit – eine der auch Oelze eher Ausdruck gegeben haben dürfte als einer konkreten Angst vor absehbaren Taten der Nazis. Sie ist konstitutiv für die ganze Moderne, diese Verunsicherung. Sie verschärfte sich in jenen Jahren »nur«.
Die Ausstellung gliedert ihre Exponate nach Ländern – was sinnvoll ist, insofern in Spanien eine ganz andere politische Lage herrschte als in der Sowjetunion. Doch zieht die Kunst gern andere Grenzen. So wird in der italienischen »Abteilung« die Sympathie nicht verschwiegen, die die Futuristen für den Faschismus Mussolinis hegten. Allerdings handelte es sich bei ihnen im Großen und Ganzen um Künstler auf der Höhe der Zeit: Wenn Alfredo Gauro Ambrosi 1936 sein »Bombardement in Ostafrika« malt, dann ist das Sujet menschenverachtend, sind die Mittel aber avanciert und ergeben ein hochspannendes, Feiniger-artiges Bild – meilenweit entfernt von deutschen Reichsschamhaarmalern. Genau hier wird die Sache, weil gefährlich, auch spannend. Und genau hier drückt sich die Ausstellung etwas zur Seite. Müsste man nicht über die Ästhetik Leni Riefenstahls sprechen? (Von ihr werden Stills aus dem Olympia-Film gezeigt.) Oder darüber, inwieweit die großen Abstraktionsbemühungen und das Erneuerungspathos der Kunst der Moderne eben auch verantwortlich sind für Fragwürdiges wie den italienischen Futurismus? In Italien, Frankreich (Robert und Sonja Delaunay), der Sowjetunion, den USA, das kann man beispielhaft in Bielefeld sehen, gab es dieselbe Technik-Begeisterung in der Kunst; in Deutschland noch am wenigsten. Und in Russland wie in Amerika sind die Bilder, die die Technik feiern, leicht und bunt, gewissermaßen in vorwegnehmender Nähe zur Pop-Art. Erst das, was wir außer den Bildern wissen, macht die einen zu Propagandainstrumenten, die andern zur Sozialkritik. Während andererseits dem Surrealismus die 1937-er Wende ins Politische nicht so leicht nachzuweisen ist, wie die Ausstellung es gern möchte: Diese Kunstrichtung lebte von Anfang an vom Alarmismus.
»1937« – eine sperrige, aber eine wichtige Ausstellung, die einem »viel zu denken gibt«, wie Kant es von allem Ästhetischen fordert. Man sollte sie sehen. Zumal sie auch etwas ganz Versöhnliches bereithält: eine wunderschöne kleine, gegenständliche Arbeit von Mark Rothko, »Kontemplation«. Von 1937.
Bis 13. Januar 2008. Sehr ausführlicher Katalog, 528 S., 32 €. Tel.: 0521/3299950-0. www.kunsthalle-bielefeld.de