André Kaczmarczyk inszeniert »Die Märchen des Oscar Wilde erzählt im Zuchthaus zu Reading« am Düsseldorfer Schauspielhaus.
Was hat den Götterliebling Oscar Wilde, wie er sich im Düsseldorfer Schauspielhaus mit einem Rosenbukett vor dem rauschend roten Vorhang zeigt, der in der Abweichung sich selbst erfand und in der Normüberschreitung verwirklichte, dahin gebracht, sich dem Tribunal zu stellen, das ihn gemäß der rigiden Moral des viktorianischen Zeitalters wegen Sodomie 1895 zu zwei Jahren Zuchthaus und Zwangsarbeit verurteilte? Waren es Leichtsinn und sich unangreifbar dünkendes Selbstgefühl? War es der Mut, sich stolz zu bekennen, ein geheimer Impuls zur Selbstbestrafung oder inneres Ahnen, dass es um seine kreative Kraft geschehen sei, ganz gleich ob hinter Gittern oder im Exil? »Die Wahrheit der Absicht ist nur die Tat selbst.« Um es mit Hegel zu sagen. Oscar Wilde hat gebüßt, wie André Gide meinte, wegen eines Übermaßes an Geschmack. Aber das ist auch nur ein Aperçu.
Ist es nicht erstaunlich, dass der Ästhet und Dichter des Raffinements und der Paradoxie, dass das Originalitäts-Genie in seinen Märchen tiefes Gefühl und Mitgefühl und durch Leiden erworbene Humanität (häufig repräsentiert von Flora und Fauna und unbelebter Natur) zum Ausdruck bringt? »The Happy Prince«, der Hof-Zwerg der Infantin, die Nachtigall und die Rose wissen mehr, als die Komödien des Bunburyismus ahnen lassen, teilen dieses Wissen jedoch mit der liebeskranken judäischen Prinzessin Salome.
Das erste und letzte in Musik gesetzte Wort hat Georgette Dee, die große Diseuse als Gast im Düsseldorfer Ensemble, deren Identität und Karriere ebenfalls aus dem Aufbegehren entsprungen sind. Sie singt Wildes Poem »Each man kills the thing he loves« und entschlüsselt damit »Die Märchen des Oscar Wilde erzählt im Zuchthaus zu Reading«, vielleicht sogar entgegen der »Absicht«. Denn der Regisseur André Kaczmarczyk steht dem sich der Komplexität des Stoffs und der Abgründigkeit seines Helden bewusste Autor Kaczmarczyk bisweilen im Wege und verstellt ihm den Blick.
Zwischen Phantasie und Wirklichkeit
Der Konflikt von poetischer Phantasie und brutaler Wirklichkeit, wie er in Wilde lebensgeschichtlich und werkgeschichtlich Gestalt wird, so dass der Häftling C33 in dem einen Rettung vor dem anderen sucht, ist der Grund des Theaterabends. Den antagonistischen Schwebezustand zwischen formaler Brillanz und gedanklicher Präzision herzustellen und zu halten, ist schwierig. Es gelingt nur bedingt. Man merkt der Inszenierung die Mühe an.
Als wichtigstes Kriterium kann womöglich nicht die Wahrheit, sondern die Schönheit gelten. Und davon abgeleitet die Imagination und ihre Schwester die Selbsttäuschung, die gegenüber der trivialen Lebensprosa triumphieren und noch das eigene Scheitern für aufsehenerregend halten, wie im Märchen von der »Rakete« (ebenfalls von Georgette Dee champagnergleich gezündet).
Die von Matts Johan Lenders komponierte, von Streichern und dem Pianisten getragene Kammermusik ist treibende Kraft: nicht lieblich, nicht zärtlich (oder nur selten), sondern harsch, brüsk, drängt sie nervzerrend voran und hindert doch die Spielszenen auf der kreisenden Bühne nicht, sich zu sehr zu verbreitern und zwischendurch nach der Fülle des Wohllauts in revuehaft wirbelnden Momenten zu haschen. Diese dann beherrscht Georgette Dee in ihrer professionellen Präsenz überlegen. Das vielköpfige Ensemble sucht da nicht selten seine Position – und outriert.
In die stahlgraue, schattenhafte, uniformierte Kerkerunterwelt bricht hinein das diverse, pfauenprächtige und artifizielle Märchenpersonal, um seine Fabeln zu erzählen und zu besingen. Mit Freude zu sehen sind: Michael Fünfschilling als todunglückliches petit monstre und Häuflein Knochen (»Der Geburtstag der Infantin«) und als ballettös trippelnde, liebesenthusiastische Nachtigall im rot-goldenen Gewand sowie Roman Wieland als Schwälberich, der Ironie und Sentiment exakt dosiert. Und wiederum Georgette Dee, die einen Auftritt als Oscars Mutter, Lady Wilde, hat, deren Erscheinen für den von ihr vereinnahmten Sohn mehr Traumbild ist als greifbare Realität.
Zwei Welten treffen aufeinander
Aus dem Kontrast, der gleichzeitig Dialog und Wildes biografische Bilanz ist, sind also Stück und Inszenierung konstruiert. So brechen sich die Szenen vor Gericht und im Gefängnis nebst den Parolen ihrer bösen Repräsentanten am Kunstraum der Märchen und ihrer gesegneten Trauer. In der Begegnung des Häftlings Wilde mit seinem lauteren, schlichten Wärter (Thomas Wittmann) treffen sich beide Welten: Dass es im Zellendunkel, das für Wilde den Tod vorwegnimmt, möglich ist, Helligkeit zu erfahren, ist so etwas wie Gnade. Diesem der Liebe würdigen Mister Martin wird er ein Buchexemplar seiner Märchen widmen.
Wie lässt sich die narzisstische Kränkung ertragen? Die Doppelrolle Wildes als exaltierten Gentleman, dessen Kunsttheorie gegen die rabiate Rhetorik des Kronanwalts Carson keine Chance hat, und als Ekstatiker des Unglücks in seiner Schuld-Hölle zu gestalten, ist für Yascha Finn Nolting überfordernd. Am nächsten kommt auch er ihr im Gesang: »But strange that I was not told, / That the brain can hold / In a tiny ivory cell / God’s Heaven and Hell.«
Das Appellative, das sich schließlich in einem »Ecce Homo«-Bild kund tut, hätte Wilde nicht behagt – außer in seinen Märchen und dem »De Profundis«-Schmerzensbrief an seinen unseligen Lord ‚Bosie’ Douglas. Für Kaczmarczyk haben sie eben Vorrang gegenüber den dramatisch gestalteten Situationen und Konstellationen. Dieser Radikalismus des Herzens nimmt ebenso für den Abend ein wie er ihn schwächt. Und so erinnert das Finale an das himmlische »Ist gerettet«, womit in Goethes »Faust« das auf Erden gerichtete Gretchen frei gesprochen wird.
Düsseldorfer Schauspielhaus, Auff.: 25. März, 4., 14., 20. April, 10. Mai