Sie war und ist die bekannteste deutsche Kochbuch-Autorin: Henriette Davidis. Genauer: Johanna Friederika Henriette Katharina Davidis. Oder einfach »Jettchen«. Doch wer war sie: Reaktionäre Verfechterin des bürgerlichen Familienideals? Oder doch eher eine stille Reformerin? Belege findet man für beides – Leben und Werk dieser widersprüchlichen Frauenfigur des 19. Jahrhunderts lassen sich nicht leicht in Einklang bringen. Eine Spurensuche in Dortmund und Wetter.
»Die Kunst des Kochens nach Henriette Davidis«, heißt ein Kurs, zu dem die VHS Dortmund am 6. April 2025 einlädt. Dozentin Anja Hecker-Wolf hat dazu klassische Rezepte aus Davidis‘ »Praktischem Kochbuch« herausgesucht: »Natürlich den Westfälischen Pfefferpotthast, dann Blumenkohl mit Parmesankäse, Kartoffelbällchen und als Dessert Rotweingelee.«
Besagtes Kochbuch erschien 1844 unter dem umständlichen Titel »Zuverlässige und selbstgeprüfte Recepte der gewöhnlichen und feineren Küche. Practische Anweisung zur Bereitung von verschiedenartigen Speisen, kalten und warmen Getränken, Gelees, Gefrornem, Backwerken, sowie zum Einmachen und Trocknen von Früchten, mit besonderer Berücksichtigung der Anfängerinnen und angehenden Hausfrauen«. Berühmt wurde es als »Praktisches Kochbuch«, das schon zu Davidis‘ Lebzeiten 20 Auflagen erlebte und bis heute in vielfachen Überarbeitungen im Handel erhältlich ist.

In Dortmund erinnern nicht nur Kochkurse und die Davidisstraße an sie; erst 2024 wurde ein Davidis-Denkmal in der Nähe ihres letzten Wohnortes eingeweiht. Auf dem Dortmunder Ostfriedhof wird ein schwarzer Emaille-Kochtopf auf ihrem Grabstein regelmäßig frisch bepflanzt, und in ihrem Geburtsort Wetter-Wengern südlich von Witten eröffnete 1994, 118 Jahre nach ihrem Tod, ein ihr gewidmetes Museum. Auch in Dortmund war sie der Anlass zur Gründung des Deutschen Kochbuchmuseums – derzeit ist nur seine Bibliothek geöffnet. Doch der Förderverein des Museums ist aktiv – die »Henriette-Davidis-Gesellschaft e.V.«.
Was hat sie es geschafft, dass sie mit ihren Büchern und als Person bis heute in aller Munde ist? »Sie hat sich durchgesetzt bei der Herrengesellschaft und ihr Leben gemeistert«, antwortet Anja Hecker-Wolf.
»Ich wäre heutzutage wohl mit ihr aneinandergeraten – viel zu streng.«
Anja Hecker-Wolf
Die Pfarrerstochter Henriette Davidis wird in ein gerade anbrechendes Jahrhundert dramatischer Veränderungen geboren. Die Industrialisierung macht Dörfer zu Städten voll rauchender Fabrikschlote, bringt Einwanderung, Wohnungsnot, Bau-Boom in die Gegend an der Ruhr. In den letzten 20 Jahren ihres Lebens, die Henriette Davidis in Dortmund verbrachte, wächst diese Stadt um das Doppelte auf 44.000 Einwohner.
Es ist auch die Zeit, in der die Frauenbewegung in Deutschland erwacht. In den Jahren vor der Revolution 1848/49 melden sich Frauen mehr und mehr öffentlich zu Wort, demonstrieren und schreiben gegen ihre Ungleichbehandlung in Staat und Gesellschaft an. Im Ruhrrevier war davon allerdings nicht viel zu spüren. Während das Bürgertum im Vormärz für Demokratie und Freiheit auf die Straßen ging, war die Bevölkerung im entstehenden Ruhrrevier mit dem Arbeiten und Überleben beschäftigt – und Henriette Davidis zog gerade nach Bremen, um dort als Gouvernante zu arbeiten. Doch noch einmal zurück zum Anfang.
»Man lernte nicht übermäßig, der Verstand wurde so weit geschont, daß man ihn nachher noch hatte.«
Die Frauenrechtlerin Helene Lange über Höhere Töchterschulen
Henriette ist das zehnte von 13 Kindern im Pfarrhaus Wengern. Der christliche Glauben sollte sie bis an ihr Lebensende prägen. Mit 15 Jahren zieht sie in den Haushalt ihrer älteren Schwester im benachbarten Schwelm und besucht zunächst dort, dann in Elberfeld die Höhere Töchterschule. »Man lernte nicht übermäßig, der Verstand wurde so weit geschont, daß man ihn nachher noch hatte«, urteilte die Frauenrechtlerin Helene Lange über diese Art Bildungseinrichtung, die sie selbst um 1860 besucht hatte. Henriette Davidis habe dort die Fähigkeit gezeigt, so lobte ihr Schwelmer Lehrer, »ihre Gedanken in allgemeinverständlicher, schöner Form« darzustellen. Ein Talent, aus dem sie später Kapital zu schlagen wusste.
Sie lässt sich in Elberfeld als Erzieherin ausbilden und findet eine erste Anstellung als Hauslehrerin ihrer Neffen und Nichten in Bommern im heutigen Witten. Bis 1844 ihr erstes Kochbuch erscheint, sammelt sie Erfahrungen in Haushalten in der Schweiz und in Niedersachsen, pflegt ihre Mutter und wird in den 1840er Jahren schließlich Leiterin der Mädchenarbeitsschule in Sprockhövel. Aus ihren schriftlichen Handreichungen für ihre Schülerinnen entwickelt sich das erste Kochbuch.
Kochbücher gab es zu jener Zeit bereits hunderte – doch diese beschränkten sich fast ausschließlich auf die Küchen bestimmter Regionen. Kein Wunder in einer Zeit, da das heutige Deutschland aus vielen Kleinstaaten bestand. »Henriette Davidis bündelte die Koch-Erfahrungen aus Sachsen, Bayern, Mecklenburg oder Baden«, sagt Walter Methler, der das Henriette-Davidis-Museum gegründet und eine preisgekrönte Bibliografie zu Davidis und anderen Protagonistinnen hauswirtschaftlicher Literatur herausgegeben hat. »Das Besondere war außerdem: Sie hat alle Rezepte selbst ausprobiert und so beschrieben, dass auch Anfängerinnen damit arbeiten konnten – allgemeinverständlich, gut gegliedert, übersichtlich.«
»Dem Hause würdig vorzustehen, dasselbe nach Möglichkeit zum angenehmsten Aufenthalt des Mannes zu machen, nur ihm gefallen zu wollen, (…) – das sei und bleibe die schönste Aufgabe des weiblichen Berufs.«
Henriette Davids in der Einleitung zu »Die Hausfrau«
Doch nicht nur Zutaten und Zubereitungshinweise enthalten ihre Bücher – sie sind getränkt mit Verhaltenshinweisen für tugendhafte Hausfrauen in der biedermeierlichen Zeit. Das gilt vor allem für Werke wie »Der Beruf der Jungfrau« oder »Die Hausfrau«. In der Einleitung dazu schreibt Davidis: »Dem Hause würdig vorzustehen, dasselbe nach Möglichkeit zum angenehmsten Aufenthalt des Mannes zu machen, nur ihm gefallen zu wollen, auf alle seine Wünsche, insofern sie zum wahren häuslichen Glücke dienen, die größte Rücksicht zu nehmen, möglichst zu vermeiden suchen, was Sorge nach sich ziehen könnte, nie zu vergessen, daß der Mann der Versorger der Familie ist – das sei und bleibe die schönste Aufgabe des weiblichen Berufs.«
Wohlgemerkt: Schon 13 Jahre zuvor hatte eine Autoren-Kollegin, die Frauenrechtlerin und Gründerin der »Frauen-Zeitung« Louise Otto-Peters geschrieben: »Die Teilnahme der Frau an den Interessen des Staates ist nicht ein Recht, sondern eine Pflicht.« Sie gründete den Allgemeinen Deutschen Frauenverein, dessen Hauptziele die Erwerbstätigkeit und Bildung von Frauen waren.
Gespür für Marketing
Zwei Frauen, eine Zeit und zwei Standpunkte, die nicht weiter voneinander entfernt sein konnten? Nein – denn Henriette Davidis war ja erwerbstätig, und sie war gebildet. Sie selbst lebte so gar nicht das Leben, das sie ihren Geschlechtsgenossinnen empfahl. Der Grund dafür liegt in persönlichem Schicksal: Zweimal ist Davidis verlobt, zweimal sterben die Männer vor der Hochzeit. So bleibt sie ledig und darauf angewiesen, ihren Lebensunterhalt selbst zu erarbeiten. Ob sie durch ihre Schriften zu kompensieren suchte, dass sie selbst das christlich-bürgerliche Familienideal nicht leben konnte?
Als Lehrerin, gar Schulleiterin und zunehmend erfolgreiche Autorin, die immer wieder um Honorare, Erscheinungstermine und Vertragsbedingungen feilschen muss, wächst ihr Selbstbewusstsein. Zahlreiche Schriftwechsel mit ihren Verlegern belegen das – und auch ihr intuitives Gespür für Marketing und Verkaufsförderung. In ihren Büchern empfiehlt sie bestimmte Koch-Herde und verfasst mit der »Kraftküche von Liebig’s Fleischextract« gar ein eigenes Kochbuch rund um das Fertigprodukt, mit dem sie selbst Handel treibt. Den Erlös spendet sie für soziale Zwecke. Ihr Gartenbuch erlebt 26 Auflagen, ihre »Puppenköchin Anna« wird ebenso ein Erfolg und bereitet schon kleine Mädchen auf hausfrauliche Aufgaben vor.
Reich wird Davidis dennoch Zeit ihres Lebens nicht – das hätte wohl auch ihrem christlichen Weltbild widersprochen. Gerecht behandelt werden will sie dagegen schon, und das sollte für alle Frauen gelten, denen der »natürliche« Weg in die bürgerliche Versorgungsehe versagt bleibt. »Um nun in solchen traurigen Lagen nicht hilflos dazustehen, so suche dich, meine Jungfrau«, schreibt Davidis, »früh für das Fach tüchtig auszubilden, zu welchem Du besondere Anlage und Neigung zeigst.«
Die Berufstätigkeit außer Haus sieht sie zweifellos als Notlösung – doch setzt Henriette Davidis durch ihre Bücher alles daran, den Beruf der Hausfrau aufzuwerten und die Frauen professionell auf ihre Aufgaben als Gattin, Mutter, Köchin oder Herrin über das Personal vorzubereiten. Auch damit stieß sie in eine Marktlücke. Ihre Tipps zur sparsamen Haushaltsführung und -ausstattung, Reinlichkeit und Vorratshaltung bekamen viele junge Mädchen ansonsten nirgends.

Im Henriette-Davidis-Museum in Wengern kann man eintauchen in diese Zeit, in der die Küche aus verwirrend vielen Gerätschaften bestand: Hühnerkeulenhalter, Kartoffelstiftler, Zuckerhammer, Gänsestopfer, gar eine Kokosnuss-Raspelmaschine oder eine Barttasse fanden sich in gutbürgerlichen Haushalten – wenn auch nicht unbedingt im Ruhrgebiet. Die Arbeiterhaushalte hätten sich weder das Kochbuch noch die meisten Zutaten oder das Küchenzubehör leisten können. An diese Leser richtete Davidis allenfalls ihre »Praktische Anweisung zur Bereitung des Roßfleisches« von 1848. Ansonsten fand sie ihre Leserschaft in ganz Deutschland, bald auch darüber hinaus – sogar unter den deutschen Auswanderern in den USA.
Im Museum in Wengern kommt man auch der Autorin selbst ganz nah: Ein Raum des schmucken Fachwerkhauses, das in ihrem Geburtsjahr 1801 errichtet wurde, ist ihrem Wohnzimmer nachempfunden. Zu sehen sind Stühle aus ihrem Nachlass sowie Accessoires, mit denen sich die Autorin umgeben hatte: eine lilafarbene Tapete mit gelb-grüner Bordüre, Efeu zur Wanddekoration, in dem Glasvögelchen sitzen, Kamelien sowie ein Kanarienvogel im Käfig – dazu Marienbilder, fromme Stickbilder und ein Kruzifix. »Bis zu ihrem Tod hat sie in dieser Umgebung für die Neuauflagen ihrer Bücher vormittags Rezepte ausprobiert und nachmittags die vielen Leserbriefe beantwortet, die sie erreicht haben«, weiß Walter Methler.
In seinen eigenen Veröffentlichungen bemüht sich der Museumsgründer, Davidis als biedermeierliche Vorgängerin der Frauenbewegung darzustellen. Dortmunder Lokalpatrioten feiern sie fälschlicherweise als Propagandistin der westfälischen Küche, gar Erfinderin der Gattung Kochbuch oder des »Küchen-Imperativs« (»Man nehme…«). Das ist Henriette Davidis sicher nicht. Was sie aber war: Eine schon zu Lebzeiten berühmte und einflussreiche Frau des 19. Jahrhunderts, das an berühmten und einflussreichen Frauen nicht eben reich war – und eine Frau an der Schwelle der Zeiten.
»Die Kunst des Kochens nach Henriette Davidis«
6. April