Norwegens Kandidat für den Oscar und bereits mit der Goldenen Kamera von Cannes prämiert: »Elternabend« (»Armand«) von Halfdan Ullmann Tøndel.
Etwas ist passiert. Ob ernst oder harmlos, ist unklar. Viel erfahren wir nicht, aber machen uns einen Reim darauf. »Wenn nötig, greifen wir ein«, sagt Sunna, die junge Lehrerin von Armand mit verstörter Miene. Wir sind an einer Grundschule, die aussieht wie ein Schloss, gelegen in freier Natur. Die Kamera fährt durch Flure, bleibt hängen an einer Wand mit Fotografien der Klassen und der Kinder. Zuvor hörten wir in einem brausenden Auto das Telefonat der Fahrerin, offenbar mit der Schule, und ahnen, dass es sich um die Mutter von Armand handelt, die über einen Vorfall informiert wird. Elisabeth (Renate Reinsve) heißt die Frau am Steuer. Wie der Schulleiter sagt, »eine öffentliche Person«, was zu berücksichtigen sei. Diplomatisch und diskret zu sein, darauf komme es hier an. Jedenfalls gebe es ein »Prozedere« für solch eine diffizile Angelegenheit. Direktor Jarle (Oystein Røger) delegiert die Verantwortung an Sunna.
Es folgt noch eine lange Kamerafahrt entlang des imposanten Gebäudes. Zehn Minuten sind vergangen: So baut sich Spannung auf. Die Nervosität hat sich auf uns übertragen. Als Elisabeth ankommt, möchte Sunna (Thea Lambrechts Vaulen), dass sie noch auf Sarah und Anders (Ellen Dorrit Petersen, Endre Hellestveit) warten, die Eltern eines zweiten Jungen, Jon, der in die ominöse Sache verwickelt sei. Wieder verstreicht Zeit. Wir hören sich nähernde Schritte.
Wie Gewissheiten zerbrechen
Sunna bringt es über sich, die Dinge beim Namen zu nennen: Auf der Toilette habe es womöglich einen sexuellen Übergriff von Armand gegenüber Jon gegeben, der weinend, mit heruntergelassener Hose und blauen Flecken gefunden wurde. Die Jungen sind sechs Jahre alt – und treten nicht in Erscheinung. Elisabeth reagiert gefasst und gleichzeitig vollkommen verwirrt und ist überzeugt, dass Armand so etwas nicht getan haben könne, obgleich ihr keine Gelegenheit gelassen worden war, schon mit ihrem Sohn zu sprechen. Armand habe gesagt, Jon würde lügen.
Von Angesicht zu Angesicht reden nur die Erwachsenen mit- und übereinander. Behauptungen, Beschuldigungen, Unterstellungen, Vorverurteilungen. Was wäre hier rücksichtsloses Verhalten, was kindliche Lebhaftigkeit und Fantasie, was Persönlichkeitsstörung? Eine Atmosphäre von Argwohn, moralischer Beurteilung und sozialer Stigmatisierung türmt sich wie eine Gewitterwand und verschiebt das Psychodrama beinahe zum Horrorgenre. Zwischendurch legt der Film Verschnaufpausen ein, als benötigten die Beteiligten, auch die Zuschauenden, einen Moment, um sich zu sammeln. Dabei geht die Kamera ganz nahe an Gesichter heran, nimmt etwa die beiden Mütter, als sie im rot gekachelten Toilettenraum nebeneinanderstehen, im Profil auf; arbeitet mit Unschärfen, wenn sie auf rein visuelle Weise eine Beziehung zwischen Elisabeth und Anders aufdeckt; oder begibt sich auf Elisabeths subjektive Erinnerungsspur bis zu exzessiv erotischen Obsessionen.
Elisabeth fühlt sich wie vor einem Tribunal – wehrlos gegenüber dem Ausforschen ihrer privaten Verhältnisse. Ihr, der Schauspielerin, wird unterstellt, sich in Szene zu setzen, aus ihrem Leben ein Theaterstück zu machen und Situationen und Menschen zu manipulieren. Außer sich geratend, hat sie einen Lach- und Weinanfall, als therapeutisch wirksame Maßnahmen für Armand und Jon diskutiert werden.
Halfdan Ullmann Tøndels Film entwirft ein verstörendes psychologisches Puzzle, dessen Teilchen wild durcheinanderwirbeln. Mehr und mehr tritt zu Tage, dass jede der Personen ein belastendes Geheimnis in sich trägt, dass sie die Unwahrheit sagen oder etwas verschweigen. Erkennbar wird, wie unheilvoll sie miteinander verwoben sind, dass es etwa eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen Elisabeth und Sarahs Familie gibt durch die von Gewalt geprägte Beziehung zu Armands anscheinend durch Suizid gestorbenen Vater Thomas. Alles gerät aus den Fugen.
Das Zerbrechen von Gewissheiten vor laufender Kamera ist eine skandinavische Spezialität, wie sie in jüngerer Zeit unter anderem Thomas Vinterberg (»Das Fest«) und Ruben Östlund (»Höhere Gewalt«) verabreicht haben. Am Ende steht ein reinigender Sturzregen von antikischem Ausmaß und die Erkenntnis, dass unter dem Chaos womöglich das Gute und Reine liegt. *****
»Elternabend«, Regie: Halfdan Ullmann Tøndel, Norwegen 2024, 115 Min., Start: 16. Januar