Klaus Willbrand stand kurz davor, sein Buchantiquariat zu schließen. Die Idee einer jungen Freundin rettete ihn: Mittlerweile hat er hundertausende Follower in den Sozialen Medien und die Kunden strömen wieder. Ein Besuch in Köln.
Vielleicht gibt es im allgemeinen Geplapper der Sozialen Medien, zwischen Kommentarspalten, Food-Fotografie, Kosmetik- und Selfcare-Influencer*innen mittlerweile tatsächlich eine Sehnsucht nach Tiefe und Substanz. So erklärt sich zumindest Daria Razumovych, warum ihre Social-Media-Konten mit dem 83-jährigen Kölner Buchantiquar Klaus Willbrand so unglaublich erfolgreich sind: Auf Instagram hat er mittlerweile rund 140.000 Follower, die regelmäßig mit gehaltvollen Posts zur Weltliteratur versorgt werden.
Die Geschichte von Daria Razumovych und Klaus Willbrand ist die eines erstaunlichen Erfolgs, die letztlich zur Rettung seines Buchantiquariats nahe der Kölner Universität geführt hat. Es ist aber auch die Geschichte einer wunderbaren Freundschaft: Vor drei Jahren ging Daria Razumovych auf den Bücher-Antikmarkt am Neumarkt und blieb dort am Stand hängen, den Klaus Willbrand wie immer neben dem des Antiquars Ulrich Doege aufgebaut hatte, der auch in der Straße Weyertal ein Ladenlokal in direkter Nachbarschaft betreibt.
Razumovych, die damals noch als Lektorin für den Kunstbuchverlag Taschen gearbeitet hat, blieb an einer Ausgabe von Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« im schönen Leineneinband hängen. Die 30-Jährige kam mit dem 80-Jährigen ins Gespräch, besuchte ihn später auch im Laden, die Besuche wurden regelmäßiger, die beiden hatten viele gemeinsame Themen und über die Zeit freundeten sie sich an. Manchmal sagte der Antiquar zu ihr, auch wenn sie gar nicht früh unterwegs war: »Du bist heute die erste Kundin.«
Weil man mit Klaus Willbrand so wunderbar über Literatur, über Bücher, das Lesen und das Bücher verkaufen sprechen konnte, er nicht nur über einen tiefen Erfahrungsschatz verfügte, sondern diesen auch noch interessant zu formulieren wusste, kam ihr damals schon die Idee, ihn einmal vor die Kamera treten zu lassen. Ihr erster Gedanke war, kurze Videos auf TikTok zu posten, wo heute unter dem Stichwort BookTok ein reichweitenstarker Trend des Über-Bücher-Redens entstanden ist. Aber der Buchhändler winkte schnell ab: »Ein 80-Jähriger auf TikTok? Das funktioniert doch nicht.«
Irgendwann kündigte Daria Razumovych ihren Job mit dem Plan, sich als freie Lektorin, Social-Media- und SEO-Expertin selbstständig zu machen, und ging erstmal ein paar Monate auf Asien-Reise. Klaus Willbrands Situation verschlechterte sich dramatisch: »Manchmal kam zwei Tage lang kein einziger Kunde«, erinnert er sich. Deshalb rannte Daria Razumovych nach ihrer Rückkehr nach Köln offene Tore ein, als sie den Vorschlag wiederholte, es doch mal in den Sozialen Medien zu versuchen. Dem Buchhändler hätte es von selbst nicht nochmal angesprochen, aber ihm war klar: Entweder das – oder zumachen.
Die Social-Media-Expertin drehte Ende März dieses Jahres so kurzerhand einen kurzen Clip wie sie den Laden betritt, in dem der Mann mit den langen weißen Haaren, die an den Seiten einer Oberkopf-Glatze herunterhängen, mit Lesebrille und schwarzem Sakko zwischen deckenhohen Bücherregalen in der Zwischentür steht. Dazu erklingt Klaviermusik. Das ist es. Sie lädt den Clip hoch, legt sich schlafen – und am nächsten Morgen hat er über 10.000 Aufrufe. Aber diese Zahl ist nur ein Vorbote des riesigen Erfolgs, der den Social-Media-Auftritten des Buchantiquariats im Weyertal im kommenden halben Jahr beschieden sein soll. Auf TikTok gibt es mittlerweile Clips, die fast zwei Millionen Mal angeschaut wurden, und fast 50.000 Follower.
Auf Instagram folgen ihm sogar rund 140.000 Menschen – und die meisten kommen nicht einmal aus dem Kölner Raum, sondern aus Berlin oder Hamburg. »Wenn mir das vor einem Jahr jemand prophezeit hätte, hätte ich ihn für bekloppt erklärt«, sagt Klaus Willbrand, der seinen Erfolg in den neuen Medien, der auch Erfolge in den alten Medien nach sich zieht, immer noch kaum glauben kann. »Ich gebe doch eigentlich nur meinen Senf über Bücher dazu. Es kann eigentlich nur an der Professionalität von Frau Razumovych liegen – und dass wir eben keine neue oder Unterhaltungsliteratur zum Thema machen, sondern wirklich Weltliteratur.«
Daria Razumovych vertraut mit ihrem professionellen Gespür allerdings von Anfang an auf den Charme des Antiquariats: Zwei kleine Räume, vom Boden bis zur Decke voller Bücher, die teilweise zweireihig in den Holzregalen stehen: Deutsche und internationale Literatur, Bücher zu Theater, Philosophie, Soziologie, Politik und Kunst, Hardcover, Taschenbücher, günstige Schnäppchen und wertvolle Erstausgaben – alle vom Buchhändler so ausgewählt, dass er für ihre Qualität bürgen kann. In den Videos sitzt Klaus Willbrand immer an dem einen Tisch, der sein Platz im Laden ist, Ort für Beratung, Recherche, Buchhaltung und Kasse.
Thema Typographie
Trifft man persönlich auf den 83-Jährigen, der in jungen Jahren bereits einen Verlag in Berlin leitete und später als stellvertretender Geschäftsführer für die Buchhandlung Witsch arbeitete, dann ahnt man, dass die 50 Jahre jüngere Freundin, die mittlerweile auch Geschäftspartnerin ist, die Videos auch geschickt editiert. Man braucht ihm nämlich nur ein kurzes Stichwort zu geben und er beginnt zwar hochinteressant, aber auch in großer Ausführlichkeit zu erzählen und gibt sich dabei stets wieder neue Stichworte, die zu anderen Themengebieten führen.
So kommt man schon in den ersten Minuten auf überraschenden Umwegen darauf zu sprechen, dass die alte Frakturschrift zwar schöner, aber etwas schwieriger zu lesen sei, was dem Buchhändler immer auffiel, wenn er seinem Sohn im Kindesalter abends vorlas: »Da machte ich pro Seite schonmal ein oder zwei Fehler.« Der heutige Schriftsatz sei allerdings sehr vereinfacht, geradezu plump – und überhaupt die Typographie ja ein Thema für sich. Daria Razumovych macht sich eine Notiz auf dem Smartphone: Das könnte ein Thema für einen neuen Post sein.
Momentan wechseln die Themen vom Allgemeinen ins Spezielle und auch mal ins Persönliche: Im Oktober musste Klaus Willbrand länger ins Krankenhaus und bot selber an, für Social Media einen Zwischenstand seiner Behandlungen und einen historischen Überblick über seine Erkrankung, die Wassersucht, zu geben. 165.000 Menschen wollten das auf TikTok sehen, 16.000 Herzen flogen ihm dafür auf Instagram zu. Normalerweise sorgen aber Literaturthemen dafür, dass er täglich bis zu 3000 Follower dazu gewinnt. Der Antiquar scheut sich auch nicht, eigentlich unmögliche Fragen zu beantworten: Welche drei Bücher muss man unbedingt gelesen haben? »Marcel Prousts ‚Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‘, James Joyces ‚Ulysses‘ und Franz Kafkas ‚Der Prozess‘.«
4500 Seiten in 47 Tagen
Prousts »Recherche« nimmt in seinem Leben eine besondere Stellung ein: Es ist nicht nur das Buch, dass ihn mit Daria Razumovych zusammengebracht hat. Er hat die sieben Bände in unterschiedlichen Lebensaltern sogar schon dreimal durchgearbeitet. »Zuletzt als die neue Übersetzung herauskam«, erinnert er sich. »Da habe ich die 4500 Seiten in 47 Tagen gelesen, man kann sagen in einem Gewaltakt.« Täglich verbringt er von 23 Uhr bis circa 3 Uhr morgens die Zeit mit Lesen, sitzt dafür aufrecht und aufmerksam am Tisch. »Lesen ist für mich auch Arbeit«, sagt er, »ich möchte auf die stilistischen Feinheiten achten, auch Details mitbekommen.«
Bald ist Klaus Willbrand auch selbst Buchautor, der in seinem Stil von seinem Leben mit der Literatur erzählen wird. Der Verlag Fischer kam auf ihn zu mit dem Wunsch eines Buchprojekts – Thema: egal. »Einfach Literatur. Eine Einladung« wird nun im Juni 2025 erscheinen und mit einem Vorwort und Schlusskapitel von Daria Razumovych unter anderem davon erzählen, wie der Antiquar als Fünfjähriger in seiner Heimat im kriegszerstörten Ruhrgebiet in einem Krankenhaus liegt mit Kinderasthma. »Ich musste mir selbst das notdürftige Sauerstoffgerät an- und abschalten«, erinnert er sich. Irgendwann brachte ihm sein Vater eine Lesefibel mit, mit der er sich selbst das Lesen beibrachte – und sich damit Zugang zu seiner Welt verschaffte, in der er sich bis heute am liebsten aufhält.
Deshalb war die Begegnung mit der jungen Lektorin ein Glück. Dank des Erfolgs auf Social Media, über den mittlerweile auch alle großen Zeitungen und Fernsehsender berichten, sind auch die Kunden zurückgekommen – in richtigen und im digitalen Leben, wo schon über tausend Menschen sogenannte »Mystery-Boxen« gekauft haben. Überraschungspakete zu Themen wie »Kunst«, »Lyrik« oder »klassische Literatur« sind das, die der Antiquar individuell zusammenstellt und mit denen immer Entdeckungen möglich sind. »Literatur hält nicht unbedingt jung«, sagt der 83-Jährige, »aber sie hält wach.«
Welche drei Bücher würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen, Klaus Willbrand?
Heinrich Heines »Buch der Lieder«, das ich immer schon sehr geschätzt habe, schon in Schülerzeiten. Das zweite Buch wäre auch austauschbar, aber im Moment, in meiner jetzigen Stimmung, würde mir »Der Zauberberg« von Thomas Mann gefallen, der nur so strotzt von kraftvollen Gestalten und fantasievollen Begegnungen. »Die Gelehrtenrepublik« ist ein Buch, das fantastische Züge hat und gleichzeitig aber auch sehr ironisch ist. Eine Geschichte, die in zwei Welten stattfindet: Einmal in einer von Atombomben verwüsteten Landschaft und auf einer künstlichen Insel, wo sich die Intellektuellen der ganzen Welt hin gerettet haben.
Klaus Willbrand empfiehlt: Franz Kafka: »Betrachtung«
Die »Betrachtung« war Kafkas erster Sammelband, der bei Rowohlt 1912 in einer kleinen Auflage von 800 Exemplaren erschien. Kurt Wolff war damals am Verlag mit beteiligt – bis Rowohlt 1913 erstmal Schluss machte. Kurt Wolff übernahm die Restauflage – vorher waren 200 Exemplare verkauft worden. Das Entscheidende ist die Auseinandersetzung, die die Literaturkritik seit fast 100 Jahren führt, wie die »Betrachtung« einzuordnen ist. Man ging davon aus, dass es eigentlich frühe Schreibübungen waren, die man nicht weiter beachten sollte. An der neuen Ausgabe ist das Nachwort von Vivian Liska interessant, die spezialisiert ist auf jüdische deutsche Literatur. Sie vertritt die Meinung, dass auch diese frühen Arbeiten bereits die Grundideen, die Grundstimmung des Werks von Kafka mitbestimmen. All diese kleinen, teilweise nur ein paar Zeilen langen Texte und die kurzen Erzählungen haben bereits diese befremdende, manchmal sogar erschreckende Stimmung. Kafka erzählt ganz harmlose Geschichten, die dann aber Wendungen bekommen, die die ganze Aussage in Frage stellen und dunkel machen und teilweise auch erschreckend. Interessant ist in diesem Zusammenhang Ilse Aichinger, die das auch schon thematisiert hat, als sie Anfang der 1980er Jahre den Kafka-Preis bekam – noch lange bevor die allgemeine Literaturkritik sich langsam diesem Verständnis angenähert und das auch klar ausgedrückt hat. Aber sie war eben auch eine hellsichtige Frau, die dieses Element in sich hatte und es deswegen so überzeugend ausdrücken konnte. Es ist ein Verdienst des Suhrkamp Verlags, speziell dieses Buch nochmal mit diesem Nachwort herausgegeben zu haben. Es ist die früheste Arbeit von Kafka, die ihren Stellenwert verdient. Es lohnt sich, diese frühen Erzählungen nochmal zu lesen, sie sind vielleicht sogar der richtige Einstieg in sein Werk.
Franz Kafka: Betrachtung, Suhrkamp Verlag, 88 Seiten, 18 Euro