Der israelische Schriftsteller, politische Denker, Friedens-Streiter, liberale Zionist und Patriot David Grossman erhält den Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf – eine Würdigung.
Nach der letzten Wahl in Israel während der Verhandlungen zur Regierungsbildung unter Benjamin Netanjahu, dem ewigen Minister und Ministerpräsidenten, erinnerte sich David Grossman an einen Spruch aus dem Buch Jesaja der Heiligen Schrift von Juden und Christen: »Wehe denen, die das Böse gut und das Gute böse nennen, die Finsternis in Licht und Licht in Finsternis verwandeln, die Bitteres in Süßes und Süßes in Bitteres verwandeln!«
Da wusste das Land noch nichts von jenem »Schwarzen Schabbat«, dem 7. Oktober 2023, an dem auf grausamste, die Gebote vom Berg Sinai verhöhnende Weise tausendfacher Mord und Menschenraub durch die Hamas begangen wurde. Der säkulare Grossman ist einer derjenigen, die das Menetekel, also die Schrift an der Wand, zu lesen vermochten, bevor andere sie überhaupt nur erblickt hatten. Ohne dabei »die Hierarchie des Bösen« – anders als weite Kreise gerade auch der intellektuellen und akademischen, ‚aufgeklärten’ Öffentlichkeit im Westen und der Unterzeichner skandalöser Kulturboykotts – aus dem Blick zu verlieren, in der der abscheuliche Blutterror an der Spitze rangiert.
Der Geschwister-Scholl- und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels sowie etlicher internationaler Auszeichnungen erhält am 14. Dezember den mit 50.000 Euro dotierten Heinrich-Heine-Preis der Landeshauptstadt Düsseldorf – als »eine der bedeutendsten Stimmen der Gegenwartsliteratur«, so die Jury, die weiterhin begründet: »Seine Prosa ist durchdrungen vom tiefen Verständnis und empathischer Nähe zu den Menschen mit ihren unauflöslich erscheinenden Konflikten.« In seinen intellektuell bestechenden, differenzierten Reden und Essays werbe er unaufhörlich für Frieden und Aussöhnung im Nahen Osten. »Er wird nicht müde, der Menschlichkeit eine Stimme zu geben.«
Der Dichter als Seher
Wie der in Düsseldorf geborene, in Paris gestorbene Exilant Heinrich Heine schlägt Grossman die Trommel und fürchtet sich nicht. »Das ist der Bücher tiefster Sinn.« Dichter sind nicht die besseren Politiker, aber sie sind Seher, oder, wem das zu biblisch ist, sie sind weitsichtig. Sie haben einen Traum. Einen Traum wie Martin Luther King, der ein Dichter als Prediger war. Und sie können Davids sein, die den Goliath in Gestalt von Extremist*innen, Rassist*innen, Hassenden, Feind*innen und Verräter*innen der Demokratie und »Agenten des Krieges« bezwingen: durch den Geist, der den Buchstaben hervorbringt und dem immer auch Misstrauen in eigene Gewissheiten innewohnt, der das Mögliche – also die Alternative – aufruft und mit dem »denkenden Herzen« zu erfassen strebt. Vieles, was Grossman vor dem Zeithorizont des Nahen Ostens an Realität analysiert und erkennt, erscheint uns gerade jetzt wieder angesichts des Massakers, der Gewalt von Gaza bis Beirut, der Bomben auf Haifa und Tel Aviv als Déjà-vu. In einem Gespräch mit der FAZ Anfang 2024 fasste er seine Verzweiflung so zusammen: »Wir sind verloren. Wir hofften, wie Athen zu leben, und mussten feststellen, wir leben wie Sparta.«
Der letzte Satz seines Romans »Stichwort: Liebe« lautet: »Um so wenig baten wir, so klein war unsere Bitte: dass ein Mensch sein Leben von Anfang bis Ende leben möge, ohne zu wissen, was das ist: Krieg.« 1954 in Jerusalem geboren und schon mit acht Jahren als Radio-Reporter engagiert, studierte Grossman Philosophie und Theaterwissenschaft an der Hebräischen Universität und leistete von 1971 bis 1975 seinen Armeedienst, in dessen Zeit der Jom-Kippur-Krieg fiel, der Israels Verwundbarkeit bloßlegte. Brechts skeptische Formel vom Nichts-Gelernt-Haben erfüllt sich von dort aus bis zu besagtem 7. Oktober und darüber hinaus.
Grossman arbeitete für den Rundfunk, verfasste Hörspiele und Kinderbücher, gehörte früh zu den links orientierten Friedensaktivisten und gemeinsam mit Amos Oz, Yoram Kaniuk und Joshua Sobol zur Gruppe »kritischer Israelis«, die nicht nur Zustimmung erfuhren, sondern ebenso heftige Ablehnung aus der eigenen Gesellschaft.
1983 erschien sein erster Roman »Das Lächeln des Lammes«, dessen Fabel von der Besatzung handelt, um darunter ein feines Gewebe sinnlicher Eindrücke zu spinnen, den Widersinn des Lebens zu preisen und dem Aberwitz Humor abzugewinnen. 1986 folgte »Stichwort: Liebe«, der sich der zweiten Generation der Shoah-Opfer widmet. 2008 »Eine Frau flieht vor einer Nachricht«, in dem eine Familie und eine Mutter, Ora, durch den Tod ihres Sohnes Ofer einer schmerzlichen Prüfung ausgesetzt sind und sich in einem mikroskopischen Prozesses gemeinsame Bande lösen: Prosa, komponiert wie Moments Musicaux. Dass Grossmans Sohn Uri 21-jährig als Wehrpflichtiger im Libanon durch eine Rakete der Hisbollah starb, bildet den Grundstoff dieses Buches, das Trauerarbeit ist und diese transformiert. Den Beginn des Krieges gegen die Hisbollah-Milizen 2006 hatte der Vater noch unterstützt, aber war später von dem militärischen Einsatz abgerückt und votierte für einen Waffenstillstand. 2011 kam sein Roman »Aus der Zeit fallen« heraus, ein großer Klagegesang und Dialog zwischen den Lebenden und den Toten.
Der Mensch in seiner Widersprüchlichkeit
Aus dem Explosivstoff des Faktischen bilden sich bei Grossman literarische Fiktionen, die sich in die Mentalitätsgeschichte Israels eingeschrieben haben und die dem Menschlichen in seiner Rätselhaftigkeit, Widersprüchlichkeit, Angstverlorenheit, Verlusterfahrung und gnädigen Fähigkeit, sich selbst zu überwinden und im Anderen das Eigene zu erkennen, Ausdruck geben. Über Räume und Zeiten hinweg haben seine Bücher in ihrer großherzigen, bescheidenen, weisen Wahrhaftigkeit die Gabe, zu berühren.
»Frieden ist die einzige Option« lautet der Titel seines aktuellen Bändchens zum Gaza-Krieg, zur Besatzung (die er als »Verbrechen« bezeichnet) und zur tiefen Staatskrise. Allen Rückschlägen trotzend, bleibt Grossman bei seinem Plädoyer für die Zweistaatenlösung und hofft darauf, dass sich aus der »Festung« Israel ein neues Zuhause, eine »zweite Heimat« machen lässt.
Grossman registriert als »Katastrophe« und »Verhängnis« eine Veränderung »der Identität und des Wesens des Staates« durch den Getriebenen Netanjahu, der sich selbst als strategischer Zauberkünstler betrachtet, aber eher dem Zauberlehrling gleicht, der die Kräfte des politische Messianismus, die er freigesetzt hat, nicht mehr bändigt: im Inneren und im Äußeren. Grossman hat vor Augen die Zerrüttung und Zerstörung der verfassungsmäßigen Ordnung, gesellschaftlich liberaler Zivilisiertheit, des Ethos, das vor dem Memorial der Shoah die Menschenwürde nie wieder preisgeben will, und des Vertrauens in Rechtssicherheit. Was die berüchtigte Justizreform desavouieren würde, worauf er mit seinem Text »Momentaufnahme / Die Lage« reagiert hat.
Als Thomas Mann von den Nazis aus München vertrieben und seines Deutschtums per Dekret beraubt wurde, erklärte er vor aller Welt: »Wo ich bin, ist Deutschland.« Für Grossman, der sich den furchtbaren Satz abringen musste: »Der klaffende Schlund der Anarchie hat seine Zähne in die zerbrechlichste Demokratie des Nahen Ostens geschlagen«, gilt: Wo er ist, ist Israel. Shalom, David Grossman.
Die Preisverleihung an David Grossman findet am 14. Dezember, 11 Uhr, im Düsseldorfer Schauspielhaus statt. Die Laudatio hält Carolin Emcke.
Die Bücher von David Grossman – Romane, Kinderbücher, Essays und Reden – in deutscher Übersetzung erscheinen im Hanser Verlag, München. So auch sein jüngster Band »Frieden ist die einzige Option«, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer und Helene Seidler, 2024, 10 Euro.