Was gibt es zu essen? Die alles entscheidende Frage an den Feiertagen. Wie wäre es denn dieses Jahr mit Elefantenfuß, Flusspferdfleisch oder Antilopentopf? Unsere Autorin hat im Deutschen Kochbuchmuseum in Dortmund einen Blick in Rezepte aus anderen Zeiten geworfen. Eine kleine Kulturgeschichte des Festmahls – von Benimmregeln bis zur Wurstblume.
Ein Kochbuch ist nicht nur ein Kochbuch. Es vermittelt uns viel mehr als die richtigen Zutaten und Mengenangaben. Kochbücher sind Zeitdokumente. Sie erzählen Kulturgeschichte, geben Aufschluss über Versorgungssituation, Umweltbedingungen und Werte zu einer bestimmten Zeit. Das betont Leiterin Mira van Leewen, während sie durch die Bestände ihres Dortmunder Kochbuchmuseums streift – und selbst am liebsten ohne Rezept kocht, wie sie lachend erzählt: »In manchen alten Rezepten fehlen bestimmte Zutaten, weil zu der Zeit Handlungsbeziehungen zu Bruch gingen. In anderen tauchen Tiere auf, die es heute gar nicht mehr gibt oder die wir aus ethischen Gründen nicht mehr essen.«
In den 100 Jahre alten Büchern ihrer Sammlung fände man etwa eine Vielzahl an Rezepten für Schildkrötensuppe. 1988 ist das Kochbuchmuseum als Dependance des Museums für Kunst- und Kulturgeschichte in Dortmund gegründet worden und umfasst mittlerweile mehr als 13.000 Titel – darunter Kochbücher, aber auch Zeitschriften, Handschriften und Ratgeber. Das älteste Exemplar ist von 1699, das neueste von 2021. Dazwischen: jede Menge Kochbücher zu den Sammlungsschwerpunkten Geschlechterrollen, gesunde Ernährung und Esskulturen.
Wurstscheibenkunst und Küchenzettel
Dass 100 Jahre alte Kochbücher vor allem auf ein bestimmtes Rollenbild der Frau schließen lassen, dürfte wenig überraschen. Ein Blick in das Buch mit dem vielsagenden Titel »Das Reich der Frau« zeugen von veränderten Vorstellungen: Kapitel wie »Die täglichen Aufgaben der Hausfrau und ihre Erledigungen« und »Gutes Benehmen macht Freude und Freunde« gehörten aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer standesgemäßen Kochbuchlektüre dazu. Genauso wie Warenkunde, die adäquate Faltung der Serviette, oder – besonders schön – die »kunstgemäße Garnierung von Schüsseln«, der sich ein ganzes Kochbuch mit Zeichnungen fein säuberlich drapierter Wurstscheiben und Spreewaldgürkchen widmet.
»Zunächst werden die zum Anrichten bestimmten Schüsseln sauber poliert, eventuell auch mit Papiermanschetten belegt. Dann geht man zum Schneiden der zur Schüssel benötigten Fleischwaren über und legt die einzelnen Scheiben wieder sorgfältig übereinander«.
Aus einer Anleitung zur »kunstgemäßen Garnierung von Schüsseln« aus dem Jahr 1910
Ob Blutwurst, Schinken oder Speck – saftig sollte es sein und drollig aussehen. Doch nicht überall: Denn auch im 20. Jahrhundert gab es schon überzeugte Vegetarierinnen. Sofie Garschagen eröffnete 1900 ein vegetarisches Kurhaus in Bad Godesberg. Im passenden Kochbuch findet man nebst Rezepten typische »Küchenzettel für 365 Tage«. So mancher Foodblogger dürfte hier noch so einiges an Inspiration finden. Für Heiligabend empfiehlt Garschagen zum Beispiel: Bouillon in Tassen mit Kümmelstangen, dazu gebackener Blumenkohl mit kleinen Bratkartoffeln und Kopfsalat, Holunderpunsch und Weihnachtsgebäck. Klingt gar nicht altmodisch, sondern ziemlich lecker.
Eine große Rolle in der Bibliothek spielt die Kochbuchautorin Henriette Davidis, die 1845 das »Praktische Kochbuch« schrieb. Ihre Rezeptesammlungen wurden in unterschiedliche Sprachen übersetzt und auch in deutsche Kolonien überführt. Deshalb findet man in ihrem Buch auch Empfehlungen für die Zubereitung von Zebuhöckern, Flusspferden oder Elefantenherzen: »Man kocht das Herz in Salzwasser mit Pfeffer- und Gewürzkörnern, sowie Suppenkräutern weich und serviert es dann mit einer Tomaten- oder Madeirasauce«, schreibt die Autorin, die die letzten 20 Jahre ihres Lebens in Dortmund verbrachte und auf deren Spuren man sich bei regelmäßigen Spaziergängen des Museums bewegen kann. Wer sich fürs Weihnachtsmenü lieber von ihrer Kollegin Mary Hahn inspirieren lassen möchte, findet in ihrem Kochbuch eine detailverliebte Anleitung zum Ausnehmen einer »gebratenen fetten Gans«. Eine ähnliche Beschreibung liefert »Das goldene Buch der Küche« aus den 1930er Jahren nebst Rezepten für gedämpftes Rindfleisch in Bier, Sauerbraten und Rinderroulade – sowie einem ausführlichen Kapitel über ärztliche Ernährungsempfehlungen.
Omi Hildes Lifestyle
Wer denkt, dass es in den 1970er Jahren schon weitaus unkonventioneller zuging, hat weit gefehlt. Die Anlässe fürs Festmahl wurden zwar vielfältiger, doch die Benimmregeln blieben bürgerlich – zumindest wenn man Sibyl Gräfin Schönfeldt Glauben schenkt. In »Feste und Partys feiern – ein Vergnügen« von 1975 lässt uns die Autorin an ihrer Expertise zum passenden Festmahl für jeden Anlass teilhaben. Neben Hochzeiten, Fünf-Uhr-Tee sowie Ball- oder Tanzfesten wird hier auch dem Fernsehabend ein Kapitel gewidmet. Denn wer auf der Couch beherzt zum Nüsschen greift, hat seine Rechnung ohne Gräfin Schönfeldt gemacht.
»Außerdem trinkt und isst man während des Fernsehens unkontrolliert, auch unkontrolliert viel. Das ist nicht nur der Gastgeberin oder dem Gastgeber gegenüber unhöflich, es macht auch dick […]. Beim Fernsehen nur leichte Getränke anbieten, auch keine kalorienreichen Nüsse und Knabbersachen«
Sibyl Gräfin Schönfeldt Glauben in »Feste und Partys feiern – ein Vergnügen« (1975)
Wahrscheinlich rät uns der ein oder andere #foodlover bei Instagram ebenfalls von den Nüsschen ab. Denn heutzutage, so schätzt es van Leewe ein, habe Kochen vor allem etwas mit Lifestyle, häufig mit nachhaltiger und gesunder Ernährung zu tun. Kochbücher sind stylisch, durchdesignt mit vielen Hochglanzbildern. Wofür Kochbuchautorinnen im 19. Jahrhundert noch akribisch angefertigte Skizzen brauchten, gibt es heute Food-Fotografie. Aber ist bei so viel Lifestyle noch Platz für Emotionalität? Am Nebentisch in der Museumsbibliothek sitzt eine Gruppe junger Design-Student*innen, die für ein Projektseminar ein Lookbook erstellen wollen. Es gehe ihnen darum, emotionale Familiengeschichten über Rezepte zu vermitteln, erzählen sie, »Omi Hildes alte Koch- und Backrezepte« vor sich liegend. Und ja: Festmahltraditionen sind an ein Gruppengefühl gebunden, an Erinnerungen und Gemeinschaft. Und doch erfülle das Kochen laut van Leewe auch das zeitgenössische Streben nach Selbsterfüllung: »Wir leben in einer durchindividualisierten Gesellschaft. Selbst zu kochen ist ein Moment, in dem ich alles kontrollieren, meinen Individualismus ausleben und gleichzeitig einer Community zugehörig sein kann. Dann etwa, wenn ich mich für einen bestimmten Ernährungstrend entscheide.«
Das Festessen macht aus einem Alltag einen besonderen Tag, dafür braucht es immer einen Anlass und eine Gemeinschaft. Und: Der perfekte Feiertagsschmaus ist damit auch meist mit Druck verbunden. Vielleicht einer der Gründe für die hohe Scheidungsrate nach Weihnachten? Oder dafür, dass Raclette ein so beliebtes Weihnacht- und Silvesteressen ist? Pfännchenindividualismus bei gleichzeitigem Zusammensein? Bevor der Druck zu hoch wird oder man Elefantenherzen in salziges Wasser wirft, sollte man also vielleicht lieber zu einfacheren Mitteln greifen: Würstchen mit Kartoffelsalat haben’s doch auch immer getan.
Mira van Leewen spricht mit Linda Schröer (Kuratorin der »Schlaraffenland«-Ausstellung, siehe Seite 10) am 12. Dezember im Dortmunder Kunstverein über die Migration von Lebensmitteln, die Zubereitung von Kaffee und die Bedeutung verschiedener Kochgeschirre und Küchentechniken.
13. Dezember: 11 – 17 Uhr, Kochbuchflohmarkt im Deutschen Kochbuchmuseum, ab 17.30 Uhr: Vortrag über Spekulatius mit Ernährungsberaterin Lydia Pokall