»Erbe der Antike« hat das Paderborner Diözesanmuseum seine Ausstellung über das Kloster Corvey bei Höxter genannt, die eindrucksvolle Exponate aus der ganzen Welt erstmals wieder zusammenbringt. Der eigentliche Star der Ausstellung liegt derweil allerdings im Winterschlaf.
Freundlich schaut ein Augenpaar unter dem dünnen Putz hervor. Das schemenhafte Gesicht eines antiken Mannes. Es ist Odysseus in einer Szene von Homer. Doch was macht der Teil eines griechisches Epos’ auf der Wand eines ostwestfälischen Klosters? Wie kam er dahin? Und warum zeichneten christliche Gelehrte ausgerechnet einen Moment der griechischen Mythologie in ihre Kirche? Es sind Fragen wie diese, die »Corvey und das Erbe der Antike« zu einer so interessanten Ausstellung machen. Denn im Diözesanmuseum in Paderborn geht es um nichts weniger als um Wissen und Weltläufigkeit – vor 1200 Jahren.
Seit zwölf Jahren gehört das Westwerk des Kloster Corvey bei Höxter zum UNESCO-Weltkulturerbe. Grund genug, in Erinnerung zu rufen, was die Anlage am Weserbogen eigentlich so besonders macht. Die antike Szene aus dem Westwerk ist die einzige, die in dieser Form im Mittelalter entstand. Und es gäbe weitere Superlative, die man an nennen könnte: Lange beherbergte das Kloster etwa das vor der Zeit des Buchdrucks letzte erhalten gebliebene Manuskript der Annalen des Tacitus, ehe es im 16. Jahrhundert Bücherdiebe im Auftrag der Medici nach Florenz entführten. 500 Jahre später kehrt das kostbare Buch im Rahmen der Ausstellung nun für kurze Zeit nach Westfalen zurück – um mit seiner schweren Eisenkette am Einband eindrücklich zu demonstrieren, als wie wertvoll es den Menschen damals wie heute galt.
Gegründet wurde Corvey 822 von Ludwig dem Frommen, dem Sohn Karls des Großen, als erstes Kloster im sächsischen Raum, das sich schnell zum eigenständigen Herrschaftssitz mit überregionalem Einfluss entwickelte. Die Äbte waren Gelehrte des karolingischen Hofs und bestens in Rom und Byzanz vernetzt. Sie machten die abgelegene Abtei zu einem Zentrum der Übermittlung antiker Schrift, Architektur und Wandmalerei. Zu einem Zentrum des Wissens. Und damit einiger Macht. Um die intellektuelle Bedeutung des Klosters zu zeigen, haben internationale Expert*innen eine beeindruckende Fülle an Schatz- und Elfenbeinkunst, Handschriften, Skulpturen und Architekturelementen zusammengebracht. Was die Ausstellung allerdings wirklich besonders macht, sind Stücke, die hier erstmals seit Jahrhunderten wieder zusammentreffen: Da wäre zum Beispiel eine »Burse«, ein goldenes Reliquiar in Form einer Tasche, aus dem ehemaligen Stift Enger – nicht unwahrscheinlich, dass sie in derselben Werkstatt wie die »Fibel von Dorestad« aus den Niederlanden entstand. Denn beide Kostbarkeiten sind in etwa gleich alt und ähneln sich stilistisch enorm. Doch die Brosche aus dem National Museum of Antiquities Leiden war erst 1969 in einem Brunnen aufgetaucht. Sie hatte jahrhundertelang auf dem Grund einer Wasserstelle gelegen, die einst zu einem karolingischen Dorf gehörte – das heute längst verschwunden ist.
»Kunst- und kulturhistorische Ausstellungen wollen Bewusstsein für Geschichte schaffen, faszinieren, neueste Forschung präsentieren, Stücke auf Zeit wieder zusammenführen, die einst zusammengehörten und nun Tausende von Kilometern voneinander entfernt in unterschiedlichen Sammlungen bewahrt werden«, schreibt Christiane Ruhmann im Katalog. Diesen Anspruch löst die Kuratorin in jedem Fall ein. Nicht wenige der rund 60 Leihgeber haben für die Ausstellung ihre Spitzenwerke zum ersten Mal außer Landes gebracht. Einige sind erstmals ausführlich erforscht worden. Allein an die 90 (!) Autor*innen zählt der 650 Seiten starke Katalog mit vor allem sehr schönen Detailfotos – das ist Fluch und Segen zugleich, denn um die Zeit der Corveyer Klostergründung zu verstehen (und damit auch ihre kunsthistorische, gesellschaftliche, politische und religiöse Bedeutung), braucht es die Bereitschaft, sich gründlich einzulesen. Auch in der Ausstellung selbst. Der Rundgang reicht von der Klostergründung über Handelswege bis zur Weitergabe antiker Techniken wie Goldschmiede, Edelstein- und Glaskunst. Das Kloster markierte auch den Anfang der Steinbauweise in Westfalen. Dass die Gelehrten antike Schriften zu Rate zogen, um etwa Stuck und Wandmalereien überhaupt herstellen zu können, belegt die Ausstellung sehr schön. Thema wird natürlich auch die bedeutende Bibliothek, die allerdings mit der Säkularisation 1803 und der Auflösung des Klosters zerschlagen wurde. Die Bücher auf dem Klosterareal heute stammen aus dem Besitz der Herzöge von Ratibor und Fürsten von Corvey und vornehmlich aus dem 18. und 19. Jahrhundert.
Interessant ist, dass sich die Ausstellung auch mit den »Saxones« beschäftigt, den Menschen, die vor den Eroberungszügen Karls des Großen in der Region lebten, aber keine schriftlichen Selbstzeugnisse hinterließen. Nicht wenige Exponate wirken gerade hier aber bisweilen spröde. Und selbst die anschaulichsten Architekturfotos täuschen nicht darüber hinweg, dass zu einer Ausstellung über Corvey ja idealerweise auch ein Besuch in Corvey gehört: Erst wer die schlichte Schönheit, die spirituelle Stimmung im eigentlich so kargen Westwerk kennt, kann erahnen, welche Bedeutung der Kirchenbau in der Nähe des Hellwegs für die Gläubigen damals gehabt hat. Noch heute wirkt der hoch aufragende Westtrakt in der flachen Weserebene regelrecht erhaben. Welchen Eindruck muss er auf die Menschen des Mittelalters gemacht haben, die doch sonst keine Gebäude dieser Höhe kannten?
Auch im Kloster selbst gibt es Brückenschläge bis nach Paderborn – in einem Raum wird etwa multimedial die Baugeschichte und Bedeutung der Architektur erklärt und damit auch Bezug auf die Ausstellung genommen. Vor diesem Hintergrund ist der Zeitpunkt der Schau im Diözesanmuseum allerdings ein einziges Ärgernis. Denn Corvey liegt gerade im Winterschlaf. Mit Ausnahme der Abteikirche ist die Klosteranlage mit Schlosstrakt im Besitz der Herzöge von Ratibor und Fürsten von Corvey. Da für sie die Saison im Winter nun mal endet, öffnet die gesamte Anlage erst wieder im April, während »Corvey und das Erbe der Antike« nur bis 26. Januar in Paderborn läuft. Immerhin werden noch während der Ausstellungszeit das Westwerk und die Kirche vom 10. November bis 26. Januar sonntags oder bei Führungen zugänglich gemacht. Ein kurzes Zeitfenster gibt es also, einmal in der Woche, vier Stunden lang – ein schwacher Trost.
»Corvey und das Erbe der Antike. Kaiser, Klöster und Kulturtransfer im Mittelalter«
bis 26. Januar im Diözesanmuseum Paderborn
Der reguläre Besuch des Klosters Corvey ist bis April nur in Führungen möglich.
Das Westwerk öffnet bis 26. Januar sonntags von 10 bis 14 Uhr.