In puncto Vielseitigkeit und Erfindungsreichtum sucht James Ensor seinesgleichen. Dass der belgische Maler (1860-1949) auch auf dem Gebiet der Druckgrafik neue Wege beschritt, zeigt die Ausstellung »Ensors Zustände der Phantasie«, die das Museum Plantin-Moretus in Antwerpen präsentiert.
Der 75. Todestag Ensors wurde und wird in Belgien groß gefeiert. Vor allem seine Heimatstadt Ostende, Brüssel und Antwerpen rollten in diesem Jahr den roten Teppich aus, um den Pionier der Moderne mit einer Vielzahl von Ausstellungen zu würdigen. Der einzige Wermutstropfen: Ensors Hauptwerk, »Der Einzug Christi in Brüssel«, fehlte bei den knapp zehn Jubiläumsausstellungen, bei denen Antwerpen mit vier Präsentationen den Schlusspunkt setzt. Den furiosen Massenaufmarsch, mehr als vier Meter breit, malte der Künstler 1889. Eine ebenso wuselige wie faszinierende Gemengelage aus Karnevalsumzug, Militärparade und politischer Demonstration. Mit Ensor selbst als Christus – auf einem Esel reitend, zieht er in die belgische Hauptstadt ein.
1987 wurde dieses satirische Panorama, in dem der Künstler die Zustände in Gesellschaft und Kunst aufspießte, vom J. Paul Getty Museum in Los Angeles erworben. Inzwischen ist es aus konservatorischen Gründen dem Leihverkehr entzogen. Für die Abwesenheit entschädigt eine neun Jahre später entstandene Radierung, die das Motiv des Künstler-Christus auf dem Brüsseler Boulevard variierend wiederholt. Das Blatt ist nun Teil der Präsentation »Ensors Zustände der Phantasie«, mit der das Museum Plantin-Moretus in Antwerpen den Reigen der Ausstellungen zum Maler der Masken und Skelette beschließt. Bei der Grafik handelt es sich um eine seitenverkehrte Kopie des Gemäldes – doch fehlt das große rote Banner mit dem Schriftzug »Vive la sociale«, das sich auf dem Gemälde quer über den oberen Bildrand zieht.
Dass James Ensor bei dieser Darstellung zur Radierung griff, ist kein Zufall. Wie sein Vorbild Rembrandt, der die Radiernadel ebenso leichthändig verwendete wie einen Bleistift, bevorzugte auch der belgische Künstler diese Technik – abgeleitet ist der Begriff vom lateinischen Wort »radere«, was »kratzen« oder »entfernen« bedeutet. Das Tiefdruckverfahren, bei dem die Linien in eine Metallplatte geritzt oder geätzt werden, erlaubt eine freie, spontane Linienführung, feine Abstufungen und subtile Tonwerte.
Ensor – auch darin ein würdiger Nachfolger Rembrandts – verstand die Radierung als eigenständiges künstlerisches Medium, also keineswegs als bloßes Mittel zur Reproduktion seiner Gemälde. Wie einfallsreich er dabei zu Werke ging, davon kann man sich beim Rundgang durch die stimmungsvollen Räume im Museum Plantin-Moretus überzeugen. Ein idealer Ort für eine Ausstellung über Druckgrafik: Das Museum am Vrijdagmarkt residiert in der 1555 von Christoph Plantin gegründeten Druckerei. Nach Plantins Tod 1589 übernahm sein Schwiegersohn Jan Moretus die Leitung. Die Familie Moretus führte das Unternehmen über neun Generationen hinweg und machte es zu einer der wichtigsten Druckereien Europas. 1877 erwarb die Stadt Antwerpen den weitläufigen Komplex und nutzte ihn fortan als Museum der Druckkunst, das 2005 in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen wurde. Zu den Schätzen des Hauses gehören historische Druckpressen, eine umfangreiche Sammlung metallener Drucklettertypen, eine Bibliothek sowie eine Kunstsammlung.
James Ensor hätte an diesem Gastspiel im gediegenen barocken Rahmen gewiss seine Freude gehabt. Die Präsentation »Ensors Zustände der Phantasie« versammelt eine Fülle von Vorzeichnungen, Kupferplatten und verschiedenen Zuständen von Drucken. Ungewöhnlich die Abzüge auf Trägermaterialien wie Textil und Pergament – auch hier erweist sich der Künstler als unermüdlicher Experimentator.
1886, also sechs Jahre bevor Monet seine berühmte Gemäldeserie der Westfassade der Kathedrale Notre-Dame in Rouen malte, erprobte Ensor dasselbe serielle Prinzip anhand eines ähnlichen Motivs. Sein Zyklus »Die Kathedrale«, nicht zuletzt ein Zeugnis für die Gotik-Begeisterung des 19. Jahrhunderts, zählt zu den Spitzenwerken der Ausstellung. Den Kirchenbau – eine Architekturcollage aus Aachener Dom, Antwerpener Liebfrauenkathedrale und Wiener Stephansdom – kombinierte der Künstler mit seinem Leitmotiv der Massendarstellung. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den verschiedenen Platten und Zuständen der »Kathedrale«-Radierung aufzuspüren, appelliert an den Detektiv in uns und schult das Sehen.
Besonders sehenswert sind jene Blätter, die James Ensor in einem abschließenden Schritt mit Buntstift, Kreide oder Aquarellfarbe kolorierte, was den Grafiken den Anschein eines Gemäldes gibt. Beispielsweise in dem fulminanten Bild »Der Tod verfolgt die Menschenherde« von 1898: Der Sensenmann attackiert eine Menschenmenge, die zwischen zwei Häuserzeilen eingeklammert ist. Vor dem Tod, so die Botschaft, gibt es kein Entkommen. Da vermag auch das über den Dächern tagende Jüngste Gericht nur wenig Trost spenden.
Keinerlei Anlass zur Heiterkeit bietet auch die Serie »Die sieben Todsünden« – 1904 wurden die aquarellierten Radierungen als Album publiziert. Doch war James Ensor alles andere als ein miesepetriger Moralist. Im Gegenteil: Dem Künstler saßen Schalk und Selbstironie im Nacken. Ein Paradebeispiel hierfür ist die Gouache »Die gefährlichen Köche« von 1896. Hier schildert er eine wahrlich groteske Restaurantszene. Sein Kopf, säuberlich abgetrennt wie in biblischen Darstellungen das Haupt von Johannes dem Täufer, wird auf einer ausladenden Platte serviert – als Krönung eines Fischgerichtes. Bestimmt ist das kannibalische Menü mit der Aufschrift »L’Art Ensor« für eine Tischgesellschaft im Nebenzimmer: Hier warten Ensors Kritiker, um seine Kunst auf Herz und Nieren zu prüfen.
Ebenso unorthodox, ebenso kurios, darüber hinaus aber auch visionär ist eine kleinformatige kolorierte Radierung von 1888, betitelt mit »Mein Porträt im Jahre 1960«. Hier versetzt sich der Künstler imaginär in den Zustand eines Hundertjährigen: ein am Boden liegendes Skelett mit aufgerichtetem Oberkörper, dessen wache Augen die Umgebung mustern. Eines der ungewöhnlichsten und radikalsten Selbstporträts der Kunstgeschichte – geschaffen von einem 28-Jährigen.
»Ensors Zustände der Phantasie«, Museum Plantin-Moretus, Antwerpen, bis 19. Januar 2025
https://museumplantinmoretus.be/de/aktivitaet/ensors-zustaende-der-phantasie