Weltweit fürchten Illustrator*innen um die Zukunft ihrer Zunft: Künstliche Intelligenz bedroht die Grundlagen ihrer Existenz. In Münster behauptet sich ein Zeichner, der verrückt genug ist, nicht nur weiter zu zeichnen – sondern seine Bücher sogar auf die Bühne bringt: Robert Nippoldt macht seine stille Kunst zum Star.
Der Pinsel tänzelt zu Pianoklängen auf dem Papier. Aus flüchtig dahingeworfenen Strichen entsteht flugs ein wild tanzendes Paar. Sein Schöpfer sitzt nicht am Schreibtisch, sondern mitten auf der Bühne. »Ein rätselhafter Schimmer« heißt das Stück, in dem Stifte aller Art die heimliche Hauptrolle spielen. Vorhang auf für die Illustration!
Der Mann, der die Live-Bilder entstehen lässt, heißt Robert Nippoldt. Er sitzt an einem Leuchtkasten, der von einer Kamera erfasst wird – alles, was seine Hände tun, wird unmittelbar auf die bühnengroße Leinwand projiziert, vor der das »Trio Größenwahn« musikalisch die Atmosphäre der 1920er Jahre beschwört. Während Sängerin Lotta Stein in Hut und Hosenträgern Chansons ins Mikro haucht, übersetzt Nippoldt diese Stimmung in Bilder: Er zeichnet mit Edding, Kreide oder Pinsel, nutzt Scherenschnitt, Fingerpuppen und vorgezeichnete Porträts und Szenerien.
Da schwebt ein Zeppelin über die Skyline der Großstadt, ein papiernes Segelschiff hüpft über die Wellen und eine S-Bahn fährt in den Bahnhof Friedrichstraße ein, alles perfekt synchronisiert zur Musik. Nippoldt veranstaltet Bühnenzauber mit einfachsten Mitteln. Tosender Applaus ist ihm und den Musiker*innen sicher, im Berliner Wintergarten-Varieté ebenso wie im Bonner Pantheontheater oder im Theater Regensburg. Im Anschluss verkauft Nippoldt sein Buch »Es wird Nacht im Berlin der wilden Zwanziger« – ein im Taschen Verlag erschienener Prachtband, der das Jahrzehnt voller Umbrüche und Extreme in schwelgerischen Schwarz-Weiß-Bildern, in Licht- und Schatten-Kontrasten feiert.
Robert Nippoldt ist Experte für dieses Jahrzehnt. Schon für seine Diplomarbeit war er in den »Roaring Twenties« unterwegs, und schon diese Arbeit wurde veröffentlicht: »Gangster. Die Bosse von Chicago« erschien 2005 im Gerstenberg Verlag. Es folgten Bücher über »Jazz im New York der wilden Zwanziger« und »Hollywood in den 30er Jahren«. Zuletzt illustrierte er für den Coppenrath Verlag den Roman »Der Große Gatsby« neu. Wer immer Zeichnungen im Stil der 20er braucht, landet offenbar zwangsläufig bei ihm – das Hollywood Museum in Los Angeles ebenso wie die Produzenten von »Babylon Berlin«, die ihn für das Storyboard der neuen Staffel anfragten, oder renommierte Magazine wie »The New Yorker«.
Dort, wo seine Bilder entstehen, ist der Glamour weit weg. Robert Nippoldts Atelier befindet sich in der oberen Etage eines zweigeschossigen Klinkergebäudes, der »Ateliers Hafenstraße« in Münster. Anders als der Name vermuten lässt, liegt es nicht am Wasser, sondern am alten Güterbahnhof, eingepfercht zwischen Bahngleise. Wenn Nippoldt das Fenster öffnet, hört er Züge rattern und Bremsen quietschen, öffnet er seine Ateliertür, tönen mitunter Klänge der unten gelegenen Gitarrenschule durchs Treppenhaus, das bunt dekoriert ist mit den Arbeiten der 19 Künstler*innen, die hier arbeiten – zumeist Illustrator*innen und ehemalige Studienkolleg*innen der FH Münster. Daniel Napp arbeitet hier, der Vater des Kinderbuch-Klassikers »Dr. Brumm«, oder Lilli L’Arronge alias Christine Nippoldt – Roberts Frau. Die Künstler*innen teilen sich Küche, Klo und mitunter auch Aufträge; haben bereits Bücher und Kalender zusammen gestaltet. Längst könnte sich Robert Nippoldt ein größeres und schickeres Atelier leisten, zum Beispiel am angesagten Münsteraner Stadthafen. Kommt aber nicht in Frage. »Ich liebe das Miteinander in unserer Atelier-WG, auch wenn es hier aussieht wie zu Studienzeiten«, sagt der 47-Jährige.
Ein Studium, das er fast gar nicht angetreten hätte: Durch die erste Eignungsprüfung für das Fach Grafikdesign fiel er durch, studierte lustlos ein Semester Jura und verdingte sich als Gerichtszeichner, bevor es im zweiten Anlauf an der FH Münster klappte. Zuvor hatte er bereits mit einer Ausbildung an der Krankengymnastikschule geliebäugelt. Robert Nippoldt ist ein Mann mit vielen Gaben – die größte ist vielleicht seine Neugier und Offenheit für neue Projekte. Zu seinem illustren Illustrations-Portfolio gehören neben Büchern und inzwischen drei Shows auch Karten- und Brettspiele, Schallplatten und CDs, Wand- und Adventskalender, Ausstellungen und Typografien.
Dies ist die Geschichte über jemanden, der’s geschafft hat. Dessen Liste an Auszeichnungen den längsten Teil seines Wikipedia-Eintrags ausmacht. Ein Illustrator, der sogar eine Mitarbeiterin beschäftigen kann und sich so erfolgreich einen Namen gemacht hat, dass er inzwischen das meiste Geld mit dem Verkauf seiner Drucke verdient – also mit freier Kunst. Ein Freiberufler, an dessen Atelierwand eine Memo an sich selbst hängt: »KEINE neuen AUFTRÄGE ANNEHMEN«.
Kostenlose Konkurrenz durch KI
Viele Geschichten über Illustrator*innen klingen anders. Sie erzählen davon, wie die Aufträge bei Zeitungen und Magazinen wegbrechen, weil auch der Markt der Printmedien nach und nach wegbricht – oder weil sie kostenlose Konkurrenz bekommen.
Nach einer aktuellen Erhebung der Berufsvereinigung »Illustratoren Organisation« arbeiten von den 2.800 organisierten und geschätzt 10.000 deutschen Illustrator*innen nur ein Prozent angestellt – alle anderen freiberuflich. Sie sind angewiesen auf Aufträge von Agenturen, Verlagen, Unternehmen aller Art. Und diese müssen nicht mehr zwingend Geld ausgeben, um gute Illustrationen zu bekommen: die Künstliche Intelligenz liefert brauchbare bis sehr gute Ergebnisse frei Haus; Anwendungen wie »Midjourney« oder der »AI Drawing Image Generator« von ChatGPT erschaffen KI-Kunst für lau. Knapp ein Viertel der befragten Illustrator*innen hat die Auswirkungen der KI auf die Auftragslage bereits zu spüren bekommen, mehr als die Hälfte befürchtet für die eigene Zukunft genau das.
Robert Nippoldt begegnet dem Thema KI so wie allen neuen Herausforderungen: mit unerschrockener Neugier. Er besorgte sich ein Midjourney-Abo und testete, was die Künstliche Intelligenz kann. »Es war erschreckend gut«, gibt er zu. Seitdem nutzt er die Möglichkeiten, die die KI bietet, um sich inspirieren zu lassen oder auch mal, um Hintergründe für Zeichnungen seiner Shows zu erweitern und sich dadurch viel Fleißarbeit zu ersparen. Damit gehört er zu den vier Prozent der Illustrator*innen, die in der aktuellsten Befragung angegeben haben, selbst mit KI-basierten Daten zu arbeiten. »Es hilft nicht, sich dagegen zu sperren – man muss die KI für sich nutzen«, ist Nippoldt überzeugt.
Das ist nur fair – schließlich gehen auch seine eigenen Arbeiten ungefragt ein in den riesigen Online-Bilderfundus, aus dem die KI schöpft – »ich mach mir keine Illusionen, dass man das verhindern kann.« Nippoldt vergleicht den Paradigmenwechsel für seinen Berufsstand mit der Einführung des Tonfilms, der das Ende der Kino-Orchester bedeutete. Da sind sie wieder die 1920er Jahre. Langweilt ihn diese Zeit nicht inzwischen ein wenig, hat er nicht alle denkbaren Motive inzwischen einmal gezeichnet? »Doch!« ruft er, um sofort nachzuschieben:
»Die Ästhetik der 20er Jahre finde ich wahnsinnig faszinierend, es ist mein absolutes Lieblingsjahrzehnt. Aber ich habe tatsächlich nun Lust, mich mit anderen Dingen zu befassen.«
Robert Nippoldt
Das nächste Projekt führt ihn dann auch ganz weit weg: bis zum Mond: Es geht um das »Wettrüsten« zwischen Russen und Amerikanern in der Raumfahrt, wie die Konzeptskizzen an der Atelierwand verraten. Dort prangen bereits Porträts von Elon Musk und Hund Laika, von Stanley Kubrick, Hermann Oberth und verschiedenen Raketen – und auch schon einmal ein paar passende Songtitel dazwischen. Show und Buch plant Nippoldt diesmal direkt parallel. Die Show zum Buch und das Buch zur Show zu verkaufen, hat sich als geniale Marketingstrategie erwiesen – für zwei komplett analoge Produkte. Ziemlich sicher wird auch das wieder ein Erfolg. Nicht trotz, sondern vermutlich gerade wegen der zunehmenden Perfektion Künstlicher Intelligenz. Wo Urheberschaft unsichtbar wird, wächst wohl die Sehnsucht nach echten Typen, die ihr Können live zeigen.
Bühnenshow »Ein rätselhafter Schimmer«:
5. November, Stadttheater Minden
16. November, Kulturhaus Lüdenscheid
8. November, 14 bis 22 Uhr: »Tag der offenen Ateliers« in den Ateliers
Hafenstraße 64 in Münster