Mit der am Schauspielhaus Bochum entstandenen Stückentwicklung »100% peruanisch-amazonisches Haar« spürt Manuela Infante den Verflechtungen des globalen Kapitalismus nach.
Die Bühne ist ein nach oben offener weißer Kasten. Sie wirkt fast wie ein Ausstellungsraum in einer Galerie oder einem modernen Museum. Ein Eindruck, der noch durch eine Art von Skulptur verstärkt wird, die fast den halben Raum dominiert. Die Bühnenbildnerin Rocío Hernández Marchant hat eine große Zahl von dicken schwarzen Seilen am Schnürboden der Kammerspiele befestigt, die alle in einer Höhe von gut einem Meter miteinander verknotet sind, um dann auf dem Boden des Kastens auszulaufen. Auf den ersten Blick wirkt dieses Gebilde wie ein großer Baum. Oberhalb des Knotens beginnt seine Krone, die in den Himmel zu wachsen scheint, unterhalb der Stamm, dessen komplexes Wurzelwerk sich über große Teile der Bühne erstreckt. Ein eindrucksvolles, nie ganz fassbares Bild, das sich konsequent einer eindeutigen Lesart entzieht. Darin ähnelt es der Inszenierung, für die es geschaffen wurde.
Zu Beginn von »100% peruanisch-amazonisches Haar«, der neuesten Arbeit der chilenischen Autorin und Theatermacherin Manuela Infante, verliert eine von Veronika Nickl verkörperte Theaterschauspielerin nach sehr vielen Jahren ihr Engagement. Lange Zeit hatte sie immer wieder dieselbe Rolle in einem Erfolgsstück gespielt. Doch mittlerweile ist sie über 60 und beginnt, ihre Haare zu verlieren. Mehr braucht es nicht, um sie zu entlassen. Letztlich war es nicht ihr Spiel, das für den Regisseur und Boss des kommerziell ausgerichteten Theaters von Bedeutung war. Es ging nur um ihr Äußeres, ihre oberflächliche Schönheit. Diese Erkenntnis trifft sie tief. In einem Akt der Rebellion, der auch ein verzweifeltes Festklammern an dem ist, was einmal war, entwendet sie die Perücke aus dem Fundus, die sie auf der Bühne getragen hat.
Perücken voller DNA-Spuren
Die Geschichte dieser Schauspielerin, die sich schließlich auf die Suche nach dem Ursprung der in der Perücke verwendeten Haare begibt, gleicht einem der dicken schwarzen Seile aus Rocío Hernández Marchants Bühnenbild-Skulptur. Sie läuft neben zahlreichen anderen Erzählungen, Geschichten und Anekdoten her, die Manuela Infante und ihr Ensemble aufgreifen, und ist doch mit ihnen verknüpft. Alles hängt miteinander zusammen. Das klingt erst einmal nach einer Binse, einem Klischee, mit dem man es sich leicht, vielleicht sogar zu leicht macht.
Allerdings gelingt es Manuela Infante mit dieser Inszenierung, zu der Wahrheit im Kern eben jenes Klischees vorzudringen. In unserer von den Gesetzen des Marktes durchdrungenen Welt globaler Handelsverbindungen gibt es tatsächlich nichts, was nicht irgendwie miteinander verknüpft wäre. So erfährt die Schauspielerin durch einen Haartest, dass in der von ihr entwendeten Perücke DNA-Spuren von 159 Menschen enthalten sind. In der Echthaarperücke sind nicht nur Haare, sondern auch Geschichten und Schicksale von Frauen und Mädchen verknüpft, die meist in Südamerika und Südostasien unter ärmlichen Bedingungen leben. Sie sind gezwungen, ihre Haare zu verkaufen.
Natürlich können William Cooper, Gina Haller, Veronika Nickl, Abenaa Prempeh, Jing Xiang und Lukas von der Lühe nicht alle Geschichten dieser ausgebeuteten Frauen erzählen, denen die Haare zum Teil auch im wörtlichen Sinn geraubt werden. Die verlieren sich wie die schwarzen Seile auf der Bühne in einem nicht mehr zu entwirrenden Knäuel. Aber zusammen mit Manuela Infante haben sie ihre umfassenden Recherchen zum Handel mit Echthaar in einen Reigen kleiner und größerer Szenen verwandelt. Szenen, die zwischen Psychologie und Agitprop, Soap-Opera und Dokumentartheater, Gegenwart und Vergangenheit hin und her springen. So ist eine assoziative Bühnencollage entstanden, die von den Machenschaften der Perücken-Industrie, die Käuferinnen und Käufern mit Siegeln wie ›100% peruanisch-amazonisches Haar‹ gezielt in die Irre führt und ethische Standards behauptet, die eben nicht eingehalten werden, direkt an den Hof von Ludwig XIV. führt.
Das Publikum erfährt im Rahmen der Inszenierung sehr viel über den weltweiten Handel mit Echthaar. Zugleich verknüpft Manuela Infante ihn geschickt mit grundsätzlichen Betrachtungen zum Wesen der Globalisierung zum Verhältnis zwischen den westlichen Industrienationen und dem sogenannten globalen Süden. So offenbart er sich letztlich als eine weitere Facette der umfassenden Ausbeutung der Menschen in Süd- und Mittelamerika wie in Asien. Noch faszinierender und aufschlussreicher als diese kapitalismuskritischen Beobachtungen sind jedoch die Szenen und Skizzen, in denen Infantes Ensemble unser fast schon fetischistisches Verhältnis zu Haaren mit einer gehörigen Portion Ironie unter die Lupe nimmt.
Der Verlust ihrer Haare beraubt die Schauspielerin, die Veronika Nickl am Rand eines Nervenzusammenbruchs entlang balancieren lässt, nicht nur ihres Engagements. Sie verliert mit ihnen auch sich selbst. Denn nicht nur die anderen im Theater auch sie selbst hat sich im Endeffekt einzig und allein über ihr Äußeres definiert und war sich dessen nicht einmal bewusst. Ihre Haare sind ebenso wie die aufwändigen Perücken, mit denen Ludwig der XIV. einst seinen früheinsetzenden Haarausfall kaschiert hat, Symbole von gesellschaftlichem Status. Sie sind ein zentraler Teil eines Diktats von Jugend und Schönheit, mit dem Manuela Infante und ihr Ensemble gezielt brechen. Rocío Hernández Marchants schwarze Seile bilden nicht nur eine Baumskulptur, sie sind auch eine Metapher für die Macht der Haare und die Last, die sie sein können.
»100% peruanisch-amazonisches Haar«
Termine: 11. Oktober in den Kammerspielen