Die Ausstellung »Grow It, Show It!« im Essener Museum Folkwang macht die Behaarung zum Ariadnefaden einer eindrucksvollen kulturgeschichtlichen Präsentation.
»Schönes Haar ist Dir gegeben / Lass es leben«! Eine Ausstellung im Essener Museum Folkwang überträgt den Werbespruch in den Kunstkontext. »Grow It, Show It!« macht die Behaarung zum Ariadnefaden einer eindrucksvollen kulturgeschichtlichen Präsentation.
Haare sind formbar. Und flexibel. Wie sehr, das erfahren die Besucher*innen gleich am Eingang am eigenen Leibe: Wer sich vor den drei mächtigen, energisch rotierenden Propellern einer Installation von Leyla Yenirce postiert, dessen Haare werden buchstäblich vom Winde verweht. »Nacht. Schlaf. Die Sterne.«, so hat die in Berlin lebende kurdische Künstlerin ihre Arbeit betitelt. Im Mittelpunkt steht das tragische Schicksal der jüdischen Malerin Anita Rée, die 1933 vor dem Faschismus in den Freitod floh. Ein Video zoomt ganz nah an dichtes wehendes Haar heran – der 17-minütige Film symbolisiert Gewalt, Zerstörung und Auslöschung.
Ein düsterer, bedrückender Einstieg in eine Ausstellung, die aufs Ganze gesehen völlig andere Empfindungen hervorruft: Es ist eine Lust, diese rund 1400 Quadratmeter umspannende, kulturgeschichtliche Präsentation zu erkunden. Bart, Kopf- und Körperhaar, Bubikopf, Beehive und Braids, Kunstfrisuren, Perücken und Haarverlängerungen, queer-feministische und körperpolitische Aspekte – dies alles und manches mehr kommt zusammen in der Ausstellung »Haare im Blick von Diane Arbus bis TikTok«.
Ein Füllhorn, prall bestückt mit Fotografien, Videos und Musikclips, mit Porträts sowie Fundstücken aus Modefotografie und Werbung. Kein Zweifel: Die Schau hat das Zeug zum Blockbuster, weil sie sich mit sehenswerten Werken eines populären Themas annimmt. Schließlich lässt die tolle (oder nicht so tolle) Tolle niemanden kalt. Wir alle (mit Ausnahme der Kahlköpfigen) betrachten unser Haupthaar mehrfach am Tag im Spiegel – mal mit Wohlgefallen, mal mit Verdruss.
Verborgene Haarzonen
Dass weibliches Haar dagegen in repressiven Gesellschaften oftmals tabuisiert wird, das bezeugt in krasser Form der Kopftuchzwang in Afghanistan oder in Iran. Verborgene Haarzonen aber gibt es auch in der westlichen Welt – das »Schamhaar« trägt seine Bezeichnung nicht von ungefähr. Dessen Ver- und Enthüllung greift Anna Ehrenstein in ihrer witzigen Arbeit »Western Girl« auf. Die Medienkünstlerin, als Kind albanischer Eltern 1993 in Deutschland geboren, nimmt die »Bikinizone-Rasur« aufs Korn. Bei Ehrenstein sprießt das Geschlechtshaar munter über das Höschen hinaus. Eine subversive Geste der Entgrenzung, die auch auf den »lady garden« anspielt – auf Social Media eine obszöne Zone, die der Zensur anheimfällt.
Haare als Quelle von Lust und Last, als Träger diverser Bedeutungen – ein unerschöpfliches Thema. Wer die Biologie befragt, erfährt, dass es sich beim Haar um ein fadenförmiges Horngebilde handelt. Dass der aus Keratin bestehende hauchdünne Faden zugleich lebendig (in der Wurzel) und tot (in der Strähne) ist. Dass Blonden durchschnittlich 150.000 Haare auf dem Kopf wachsen, Schwarzhaarigen dagegen bloß 110.000 – Rothaarige müssen sich gar mit maximal 75.000 Kopfhaaren begnügen.
In der Essener Ausstellung spielt das Echthaar bloß eine Nebenrolle. Als kunstvoll geflochtenes Arrangement umrankt es beispielsweise eine anonyme historische Porträtfotografie. Und in Annegret Soltaus Serie »Meine verlorenen Haare« (1977) fristet es ein eher kümmerliches Dasein in zwölf Klarsichtordnern, die in einer Vitrine präsentiert werden: Auf 183 Blättern hat die Body-Artistin jene Haare geklebt, die ihr an 183 Tagen ausgefallen sind.
Konterkariert werden diese Verlustanzeigen durch elf Fotos mit prachtvoll wallender Mähne, die über der Vitrine hängen. Eine Lesart von Soltaus Arbeit lautet, frei nach Goethe: Nach dichtem Haar drängt, am dichten Haar hängt doch alles. Dies demonstrieren im Museum Folkwang zahlreiche Exponate: beispielsweise die lebensgroßen »Bravo«-Starschnitte von drei Bands, deren Frisuren für Furore sorgten. Die Rede ist von den Beatles, von Modern Talking und Tokio Hotel. Der Ausdruck »Haarpracht« kommt einem unweigerlich auch in den Sinn, wenn man die Fotografien von Weronika Gęsicka, Suffo Moncloa, Viviane Sassen oder Marie Tomanova betrachtet.
Stigma Glatze
Dem Gegenpol, der Glatze, haftet nach wie vor ein Stigma an. Obwohl Studien zu dem Ergebnis kommen, Glatzenträger würden oft als dominanter und männlicher wahrgenommen werden. Skeptischer ist die »Dr. Wolff-Forschung«: »Männer würden für volles Haar Lebensjahre opfern«. Frauen mit Sicherheit ebenfalls. Manchmal grätscht das Schicksal brutal dazwischen: In der Ausstellung vergegenwärtigt ein anrührendes Bild des US-Dokumentarfotografen Eugene Richards, dass das Leben plötzlich an einem Haar hängt, wenn eine existenzbedrohende Krankheit zuschlägt. So widerfuhr es seiner ersten Ehefrau Dorothea Lynch, die an Brustkrebs erkrankte. In seiner 1986 veröffentlichten Serie »Exploding into Life« hat Richards sie unter anderem nach der Chemotherapie fotografiert. Wie beim biblischen Samson signalisiert der Verlust des Haares den – vorübergehenden – Verlust der Lebenskraft.
Miriam Bettin und Thomas Seelig, die Kurator*innen der Folkwang-Ausstellung, haben den Parcours, der von der Fotografie des 19. Jahrhunderts bis zu aktuellen Lifestyle-Phänomenen reicht, durch ein zentrales Forum aufgelockert. In dieser »Haarena«, wie das Museum die Zone nennt, sorgt die Schwarzweiß-Reproduktion eines Bühnenbildes, das die Schweizerin Anna Abegglen in den 70er Jahren entwarf, für nostalgische Friseur-Atmosphäre.
Eingeklinkt in den wunderbaren Haarsalon sind verschiedene Exponate. Ein besonderer Blickfang: Ein Video des Barbiers Murat Turkoglu, der es unter dem Künstlernamen Barber Turko zum Social-Media-Star gebracht hat. Der Clip zeigt, wie er störende Gesichtsbehaarung durch Waxing mit der Wurzel ausrottet. Angeblich ein Beitrag zum Zeitgeistphänomen ASMR – auf YouTube, TikTok und Instagram gibt es eine globale Community, die Flüstern, Knistern oder sanfte Bewegungen als entspannend empfinden. Das Video in der »Haarena« dagegen appelliert eher an unsere Empathie, die sich regt, wenn andere Menschen leiden.
Wie beim Friseur nimmt man in einer Art Wartebereich Platz. Dafür findet man hier spezielle Sitzgelegenheiten, entworfen vom Duo Chaumont-Zaerpour. Schlichte Boxen haben die Modefotografen mit einschlägigen Motiven aus Magazinen verkleidet. Nach dem Ende der Ausstellung werden die behaarten Möbel für 250 Euro pro Stück verkauft. Eine weitere Besonderheit der kurzweiligen Folkwang-Inszenierung sind die teils sinnreichen, teils witzigen Zitate, denen man beim Rundgang begegnet. »Haare und Gedanken lassen sich nicht bändigen«, beteuert die finnische Autorin Maria Antas. Deutlich dezidierter eine Maxime von Coco Chanel: »Eine Frau, die ihre Haare abschneidet, ist dabei, ihr Leben zu verändern.« Dass Frisuren unter Umständen viel mit Politik zu tun haben, brachte die Mode-Expertin Susan J. Vincent auf den Punkt: »Wie Che Guevara und Fidel Castro uns gelehrt haben, sind Revolutionäre immer haarig.«
Karl Marx würde dem wohl nicht widersprechen. Haare steigern eben nicht nur die Attraktivität. Sie dienen nicht bloß als Erkennungszeichen, das die Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen, religiösen oder kulturellen Gemeinschaften bekundet. Sie sind auch ein Politikum. Haare als sanftes Protestsymbol, als Sinnbild der Emanzipation, für diese Bildbotschaft stehen beispielsweise Arbeiten von Hoda Afshar, Thandiwe Muriu oder Maria Tomanova.
Politisch aufgeladen ist auch der Slogan der Ausstellung, den die Kurator*innen dem Musical »Hair« entlehnt haben. »Grow it, show it, long as I can grow it, my hair«, so lautet eine Zeile der Hippie-Revue, die 1968 am Broadway ihre Uraufführung erlebte. Üppige Mähnen und schwarzes Naturhaar bekamen hier gleichsam religiöse Weihen: »My hair like Jesus wore it, Hallelujah, I adore it.« Vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs und der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung signalisierte das »Laissez-faire« im Kopfbereich, dass es an der Zeit sei, alte Zöpfe abzuschneiden. Gemeint waren damit die damals vorherrschenden autoritären und rassistischen Gesellschaftsstrukturen.
Allerdings ist nicht jede Haartracht politisch relevant. Merkwürdig blass, ja bar jeder Erkenntnis zum Thema bleibt Herlinde Koelbls fotografisches Langzeitprojekt mit Angela Merkel. Die Münchner Fotokünstlerin hat Merkel drei Jahrzehnte lang porträtiert – einmal im Jahr, stets vor neutralem weißen Hintergrund, in jenen zurückgenommenen Posen, wie sie für die langjährige Bundeskanzlerin charakteristisch sind. Der Folkwang-Fotofries, der den unvermeidlichen Alterungsprozess vor Augen führt, funktioniert zwar als Porträtgalerie, nicht aber als Zeugnis für die Wirkmächtigkeit von Haaren. Selbst als sich der Promi-Friseur Udo Walz um die »haarigen Angelegenheiten der mächtigsten Frau der Welt« kümmerte, vermochte Merkel dem Schema »Topf-Frisur« kaum zu entrinnen.
»Grow It, Show It! Haare im Blick von Diane Arbus bis TikTok«
Museum Folkwang, Essen, bis 12. Januar 2025